Heft 
(2017) 104
Seite
84
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84 Fontane Blätter 104 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte der preußischen Militärtradition, als»subalterne Natur« bezeichnet und damit»die Fundamente« des Weltbilds von Espe in Frage gestellt hatte (368). Jetzt entwickelt Unverdorben im Widerspruch zu den gängigen Ein­ordnungen von Lehnerts Fall eine eigenwillige Zukunftsprognose. Als Gegner der»Abschreckungstheorie« und unter Hintansetzung jeder nur formaljuristischen»Gerechtigkeit« verficht Unverdorben entgegen der »gäng und gäben Heilmittel« ein anderes Gesellschaftsmodell als das der sozialen Korrektion im preußischen Obrigkeitsstaat(372). Was sich hier »gegen alle Tugend- und Offiziositätsphrasen«(373) richtet, übrigens ein Urteil der Frau Espes, hat das unverhohlene Einverständnis des Erzählers. Es enthält eine Zukunftsvorhersage für den verschwundenen Lehnert jen­seits einer angepassten Untertanenexistenz, eine herausgehobene Stellung zwischen»Mohrenkönig«, chinesischem»Admiral« oder»Robinson«(372), auf keinen Fall als gesellschaftlich ausgegrenzter»Bärenführer«(373). Espe, dessen Name sich auf eine Baumart bezieht, deren Blätter schon beim kleinsten Windstoß sprichwörtlich zittern, gerät nicht erst hier in eine schräge Beleuchtung. Aus der Perspektive Opitz´ und den Erzählun­gen der Kellnerin Marie hat der Leser erfahren, dass Espe,»der damals noch sehr unten war«(275), seine Frau Geraldine(»wenigstens eine Prin­zeß«) mit zwei Kindern aus einer Ehe mit einem»Präsidenten« geheiratet hat, und als Gegenleistung dafür zum»Rechnungsrat« aufgestiegen ist. Die»dominierende Stellung« der Ehefrau(505) und ihre freizügige Le­bensführung mit mitgeführten Verehrern(504:»das ›ewige Gehabe‹«) muss der Prinzipienreiter ebenso hinnehmen wie eine offen zur Schau ge­stellte Distanz der Ehefrau, die ihren Ehemann immer nur beim Nachna­men nennt und auch mit ironischer Kritik an diesen seinen Gesinnungen nicht hinter dem Berg hält. 40 Schon hier zeigt der Roman in seiner Viel­stimmigkeit, dass er die eine Perspektive auf Lehnerts Fall nicht gelten lässt. 5.»Was heißt quitt?« Von hier aus fällt auch eine relativierende Beleuchtung auf den so eindeutig scheinenden, weil den Schluss vorausdeutenden Titel des Romans zurück. Andere Romantitel Fontanes wie Unwiederbringlich, L´Adultera, Irrungen, Wirrungen oder Vor dem Sturm sind offensichtlich nicht vergleichbar: Kann man mit Gott»quitt« sein? Der fremdsprachliche Begriff klingt nach einer Art Gerechtigkeitshandel, ein Gegenrechnen von wechselseitigen Verschuldungen, bis am Ende ein Ausgleich hergestellt wird. Da passt es, dass ausgerechnet der Rechnungsrat Espe im letzten Kapitel genau nach­rechnet:»Was heißt quitt?«(507) und ein alttestamentarisches Gerechtig­keitsgleichgewicht herstellen möchte(»Wer das Schwert nimmt, soll durch