Heft 
(2017) 104
Seite
86
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86 Fontane Blätter 104 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte dem Römerbrief interpretiert Obadja Lehnerts einschränkende Befürch­tung also durch Vereindeutigung. Ganz zuletzt darf auch nicht übersehen werden, dass Espes rigide Posi­tion nicht das letzte Wort behält, sondern dass er von seiner Frau zurück­gepfiffen wird, obwohl Espe jetzt»sehr forsch« und»überhaupt verwandelt« auftritt, weil er mittlerweile zum Geheimrat aufgerückt ist und durch eine Ordensverleihung(»dritte Klasse«), vor allem aber(»Das eigentlich Aus­schlaggebende«) durch die öffentlichen»Huldbeweise« des Kronprinzen erheblich an Renommee gewonnen hat(504). Seine»verbesserte Stellung« steht im Kontrast zum Aussehen seiner Töchter, die»ihrem Namensgeber womöglich noch unähnlicher sahen als früher«(505). Der Roman nennt diesen Hinweis»beiläufig«(505), zeigt dadurch aber, dass er es eben nicht ist. Eine dieser Töchter, sie ist eben die natürliche Tochter einer vornehmen Dame ohne»Philistereien«(273) und nicht des Rechnungsrats, zeigt in ih­rer naiven, aber auch unvoreingenommenen Einschätzung des verstorbe­nen Lehnert als»ungemein schneidig«(506), dass sie eher auf der Linie ihrer Mutter als auf der des Vaters liegt und keine»Gewagtheiten« äußert, sondern an Lehnerts Sühnetod genau das richtig erkannt hat, was ihrem Urteil angeblich fehlt:»Vor allem aber solltet ihr über das Nebensächliche die Hauptsache nicht vergessen.«(507) Nachdem Espe noch einmal ausholt: »Ordnung, Anstand, Manier. Ich bin ein Todfeind aller ungezügelten Lei­denschaften« und damit die nicht ausgeglichene staatliche Rechtsordnung mit seiner Familiengeschichte vermengt, wird er von seiner Frau endgültig zurechtgewiesen. Ihr»Ach, Espe, laß das«(507) ist freilich keine menschen­freundlich-tröstende Äußerung, wie wir sie aus dem Munde des alten Briest als Schlusswort kennen:»Ach, Luise, laß... das ist ein zu weites Feld«, 41 son­dern eine Rüge gegenüber einer nicht ganz ernst zu nehmenden, weil die Zusammenhänge nicht erkennenden Aussage. Insofern darf man den Romantitel, erst recht als Schlüssel zum Ver­ständnis des Grundkonflikts,»nicht zu wörtlich nehmen«. 42 Schließlich stirbt Lehnert in Amerika keinen Opfertod, sondern verunglückt bei einer vermeintlichen Rettungsaktion, die gar nicht nötig gewesen wäre. 43 Der glaubenslose L´Hermite(484:»es gibt also keinen Gott, wenigstens nicht für mich«) hatte ein solches Geschehen als»Fatum«, als»das Schicksal, der große Jaggernaut« bezeichnet, der alles umstandslos, mitleidlos und vor allem sinnlos und rücksichtslos»unter die Räder seines Wagens« nimmt und alles»zermalmt«(485). Lehnert hingegen interpretiert seine verun­glückte Rettungsaktion, als sei sie ein Sühneopfer, das gerade als Freund­schaftstat und vermeintliche Lebensrettung geeignet sein könnte, eigene Schuld auszugleichen, eben auf»quitt« zu stellen. Fontanes Roman endet eben nicht in Amerika, wie Lehnerts Leben dort endet, sondern findet über den Brief Obadjas und die Einbindung des letz­ten Kapitels zu seinem Ausgangsort zurück.»Alles unverändert«(504) ist