Das „Gegenteil dieses Tatbestandes“ arbeitet nun der alte Fontane im Wesensbilde seines Vaters heraus: mit einer Sorgfalt und mit einer Ausführlichkeit, die ihn scheinbar ganz vergessen lassen, das er in seiner Geschichte noch beim Jahre 1809 und bei dem gerade erst dreizehnjährigen Berliner Gymnasiasten hält. Scheinbar. Denn es geht dem Verfasser der „Kinderjahre“ um mehr und anderes als um einen chronologisch aneinandergereihten Bericht. Bereits auf der dritten Seite seines Erinnerungsbuches ist er bei demjenigen Zug des Vaters angelangt, der ihm als der charakteristischste erscheint. Mehr noch: es ist zugleich der Zug, in dem er sich selbst am deutlichsten wiedererkennt. In leicht spöttischer Einkleidung bekennt er sich damit zu einer Grundkomponente seines eigenen Wesens und Schaffens, die desto deutlicher hervortrat, je älter er wurde, und die insbesondere seine jahrzehntelange Lehrzeit als Journalist im Rückblick als Schulung des „Eigentlichen“ verstehen läßt. Indem er diesen Grundzug aus der Darstellung des Vaters scheinbar zwanglos entwickelt, zugleich jedoch auch ironisiert, macht er deutlich, was er selbst diesem Vater zu verdanken glaubt, ohne sich doch solchem Erbe und Einfluß widerspruchslos zu fügen. So Gewichtiges ist es, daß ihn darüber der unterbrochene Zusammenhang nicht kümmert. Wir folgen seinem Beispiel, getreu unserem Vorsatz, dem „Eigentlichen“ Fontanes von seinen frühesten Anfängen her nachzuspüren. Kein Zweifel, wir stehen vor solch einem „Anfang“.
„Er hielt es nämlich so“, so fährt Fontane fort, „wie viele zu jener Zeit, mit gesundem Menschenverstand und Lebekunst, oder, wie es in unserer Haussprache hieß, mit ,bon sens‘ und ,savoir faire“, und war, ganz vereinzelte Ausnahmen abgerechnet, nie dazu zu bringen, sich zu willfähriger Anerkennung der ,homines literati“ aufzuraffen. Es gab das, wenn er seinen sogenannten ,ehrlichen Tag“ hatte, den Tag also, wo er aus seiner sonstigen Politesse herausfiel, mitunter recht verlegene Situationen für uns Kinder, im großen und ganzen aber bin ich ihm doch das Zeugnis schuldig, daß er, den ihm persönlich zu Gesichte kommenden Studierten gegenüber, in neunzehn Fällen von zwanzigen immer im Rechte war. Und es konnte dies auch kaum anders sein. Er war — weil er viel Zeit hatte, leider zuviel, was für ihn verhängnisvoll wurd’ — von Beginn seiner Selbständigkeit an ein überaus fleißiger Journal- und Zeitungsleser, und weil er sich nebenher angewöhnt hatte, wegen jedes ihm unklaren Punktes in den Geschichts- und Geographiebüchern, besonders aber im Konservationslexikon nachzuschlagen, so besaß er, auf gesellschaftliche Konversation hin angesehn, eine offenbare Überlegenheit über die meisten damals in kleinen Nestern sich vorfindenden Ärzte, Stadtrichter, Bürgermeister und Syndici, die, weil sie sich tagaus, tagein in ihrem Berufe quälen mußten, sehr viel weniger Zeit zum Lesen hatten. Erlitt er mal eine Niederlage, so gab er diese freimütig zu, ja, pries sogar seinen Sieger, blieb- aber dabei, daß es ein Ausnahmefall sei.“
Viel später, im 13. Kapitel der „Kinderjahre“ stellt der alte Fontane unumwunden die Beziehung von jenem Grundzug des väterlichen Wesens zu der eigenen Entwicklung her — in einer Offenheit und Ausschließlichkeit, die den letzten Rest von Zweifel beseitigt. „Wenn ich gefragt würde“, so schreibt er, „welchen Lehrer ich mich so recht eigentlich zu Dank verpflichtet fühle, so würde ich antworten müssen: meinem Vater, meinem Vater, der sozusagen gar nichts wußte, mich aber mit dem aus Zeitungen und Journalen aufgepickten und über alle möglichen Themata
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