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früh das Gefühl eines Elternhauses raubte, in das sie sich zu Schutz und Hilfe hätten zurückziehen können. Fontanes Entwicklung wurde nachhaltig davon beeinflußt.
Der Vater starb im Oktober 1867, in eben der Einsamkeit und Langeweile, denen zu entgehen lange Zeit Hauptinhalt seines Lebens gewesen war. Kurz zuvor hatte ihn Fontane noch einmal besucht, selbst schon beinahe ein Fünfziger. Bei diesem Besuch läßt er den Vater eine letzte Rückschau halten. Von der unternehmungslustigen, forschen Suche nach einer Apotheke, die nirgends zu finden ist, hören wir nichts mehr. Übriggeblieben ist nur die Selbstanklage eines Vereinsamten; der Schatten Schlemihls, des ehedem Schattenlosen, ist in der Reue seines Altergenossen von einst gegenwärtig, ohne daß sein Name fiele oder sein Schicksal auch nur erinnert würde. Dennoch besteht kein Zweifel: die Tragödie Louis Henri Fontanes, des ewig Suchenden und nie Findenden, von Langeweile Verzehrten, war mehr als nur ein individuelles Versagen. Auch er trug die Wundmale einer Generation, deren hoffnungsfrohe Jugend in der Kirchhofsruhe der „Heiligen Allianz“ gewaltsam abgetötet worden war — mochte ihn das selbst auch nie klar zum Bewußtsein gekommen sein.
Nur schwer kann man sich entschließen, in der folgenden Tatsache aus dem Leben seines Sohnes lediglich einen biographischen Zufall ohne tiefere Bedeutung zu sehen. Als nach der blutigen Niederschlagung der Revolution von 1848/49 die Zeit und die Methoden der „Heiligen Allianz“ nach Deutschland zurückgekehrt zu sein schienen, erwog der dreiund- zwanzigjährige „freie Schriftsteller“ Fontane allen Ernstes, den Jahre zuvor vollzogenen Ausbruch aus dem väterlichen Schicksal rückgängig zu machen, und zwar diesmal für immer. Er wollte wieder Apotheker werden, nicht in Deutschland, sondern in England (Auswanderungspläne spielten in den Jahren nach der Revolution lange Zeit eine große Rolle in seinem Denken). Der Plan, ausführlich in einem Briefe an seine junge Frau erörtert, scheiterte denn auch nur daran, daß das für den Ankauf einer Apotheke notwendige Geld nicht aufzutreiben war. ..Wär ich allein“, so gestand Fontane in bitterster Verzweiflung, „so ging ich nach Australien, um es mit meinen Händen herauszubuddeln ...“ (20. 7. 1852): das Los Schlemihls blieb gegenwärtig, über ein ganzes deutsches Menschenalter hindurch. —
Mit leidenschaftlicher Neugier hatte der Apotheker Fontane all die Ereignisse in Europa verfolgt, die auf das Ende der Allianz der Reaktion und des Terrors vorauszudeuten schienen. Drei Tage nach dem Ausbruch der Revolution des Jahres 1848, am 21. März, traf er in Berlin ein, nachdem ihn der Sohn in einem über fünfzehn Seiten langen Brief bereits am 19. März die Ereignisse des ersten Revolutionstages brühwarm berichtet hatte. An Ort und Stelle wollte er sich unterrichten, und er tat es. Die teils ironischen, teils kritischen Glossen, in denen er sich dabei neugierig beobachtend und in dauerdem Plaudern mit dem Sohne erging, hat dieser ein halbes Jahrhundert später in dem Erinnerungsbuch „Von Zwanzig bis Dreißig“ wiedergegeben: im einzelnen wahrscheinlich frei erfunden, in der Grundtendenz gewiß richtig.
Denn die väterliche Wißbegierde hatte in Fontane von klein auf verwandte Seiten angeschlagen; die Geschichte der europäischen Revolutionen und Befreiungskämpfe der Jahrzehnte von 1815 bis 1848 spielt in keiner anderen gleichzeitigen deutschen Autobiographie eine auch nur annähernd ähnliche Rolle wie in den Kindheitserinnerungen des alten Fontane. Wäh-
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