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rend der großen polnischen Revolution der Jahre 1830 und 1831 habe er sich, so erzählt er, als zehnjähriger Knabe „zu einem kleinen Politiker herangelesen“ (12. Kap.). In mehreren seiner Alterswerke schlugen sich diese Erinnerungen auf unvergeßliche Weise nieder. Fontanes größter Liebesroman, „Irrungen, Wirrungen“, wird leitmotivisch zusammengehalten durch eines der „Polenlieder“, wie sie damals in Deutschland von Hand zu Hand gingen; in den „Kinderjahren“ gestand Fontane, er könne dieses Lied nicht hören, ohne „in eine unbezwingbare Rührung“ zu verfallen (12. Kap.). Ja, er ging in diesem Zusammenhang so weit, den zeitlichen Rahmen der „Kinderjahre“ zu sprengen und ein gut fünfzehn Jahre später liegendes Ereignis zur Hervorhebung der Nachhaltigkeit dieser Eindrücke mit einzubeziehen. „Die Polen kommen“: mit diesen Worten hatte er noch als Dreißigjähriger vom Dachfenster des väterlichen Hauses im Oderbruch nach der revolutionären polnischen Befreiungsarmee Ausschau gehalten und war enttäuscht und betrübt, als es schließlich hieß: „Sie kommen nicht“ (Kap. 11).
Es wäre falsch, wollte man übersehen, daß diesem Erlebnishunger beim Vater und lange Zeit hindurch auch beim Sohne ein beträchtliches Element zielloser und unverbindlicher, „romantischer“ Abenteuerlust beigemischt war: ganz dem Geiste einer Epoche und eines Systems entsprechend, die den Gedanken an ein planvolles politisches Handeln im deutschen Bürgertum zu ersticken oder wenigstens abzulenken suchten. Fontane selbst hat dieses romantische, schwärmerische Element in seinen „Kinderjahren“ vielerorts mehr oder minder spöttisch hervorgehoben — etwas über Gebühr, wenn man bedenkt, wie bald die väterliche Neugier und Beobachtungsleidenschaft in dem heranwachsenden Sohne sich gepaart hatte mit einem einsatzfreudigen und schließlich auch zielbewußten politischen Engagement.
Dem Fontane des Jahres 1892, der seine Kindheitserinnerungen niederschrieb, erschienen die Ereignisse der ersten Jahrhunderthälfte angesichts der Forderungen einer bedrängenden Gegenwart nur noch als „Scharmützel“, seine eigene Rolle dabei lediglich als die eines Zuschauers im Panoptikum (wenn er im Alter mit Vorliebe von seiner „Panoptikumsbildung“ sprach, so spielte gewiß auch dieser Aspekt mit hinein). Er hütete sich, von beiden allzuviel Aufhebens zu machen, ironisierte es eher. Die gescheiterte Revolution der Jahre 1848 und 1849 bedeutete für ihn wie für die meisten seiner Altersgenossen eine so tiefe Kluft, daß es nicht möglich schien, über sie hinaus nach rückwärts noch lebendige historische Fäden zu spinnen. „Unsere Enkel werden erst die wirkliche Schlacht zu schlagen haben“, mit diesen Worten zog er schließlich den Schlußstrich unter die „scheußlich langweiligen“ Erinnerungen an den 18. März 1848 (an Friedrich Stephany, Ö9. 3. 1898). Fontane schrieb diesen Satz ein halbes Jahr vor seinem Tode nieder: endgültig bewältigt, wenn auch nicht vergessen, war die Erinnerung an den Einschnitt des Jahres 1848/49, der für den damals Dreißigjährigen nichts Geringeres zur Folge gehabt hatte als den Bruch mit hoffnungsvollsten Ansätzen seiner Jugend- und ersten Mannesjahre (wobei die auf die Anlagen und das Beispiel des Vaters 'zurückgehenden Züge sich noch als die weitaus beständigsten erwiesen hatten). Ein Neubeginn war notwendig geworden, radikaler als bei den meisten seiner Altersgenossen. Wir wissen, welche Rolle ihm in dem singulären Phänomen der „Verspätung“ des Erzählers Fontane zukommen sollte.
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