Der Vater, dessen Lebenslinie der Sohn auch als politischer Beobachter fortgesetzt und dessen Schicksalsstigma er im Bereiche der politischen Entscheidung schließlich ebenso wie im Beruflichen hatte überwinden können, stand für den alten Fontane eindeutig jenseits jener Kluft. Nur wenigen der Altersgenossen des 1796 Geborenen — etwa dem um ein Jahr jüngeren Heine — hatten außergewöhnliche Voraussetzungen ermöglicht, sie noch zu überspringen. In Fontanes Darstellung des Vaters bleibt diese Kluft stets gegenwärtig. Sie war mehr und anderes als der „natürliche“ historische Abstand zweier Generationen. Eher als leicht ironische Anekdote, aller tragischen Einschläge zum Trotz, denn als „Geschichte“ erzählte der alte Fontane das Leben des Vaters: in derselben Tonart, die er auch für die historischen Reminiszenzen seiner Kinderjahre verwandte. Des bestimmenden Einflusses, den beides — Persönlichkeit wie Geschichte
— auf ihn ausgeübt hatte, blieb er sich nichtsdestotrotz bewußt. Seit langem schon war die Ironie zur ihm gemäßesten Form der Anverwandlung eines Einflusses geworden.
So kann auch in dem abschließenden Lebensgespräch zwischen Vater und Sohn im Jahre 1867 nur von Persönlichem und Persönlichstem die Rede sein; alles Historische, Politische und Gesellschaftliche liegt außerhalb des Gebietes einer noch möglichen ernsthaften Diskussion. Weil ausschließlicher, ja selbst leidenschaftlicher als viele seiner Zeitgenossen — um nur, als berühmtestes Beispiel, Stendhal in Frankreich zu nennen — hatte Fontanes Vater einst an der Geschichte Napoleons und seiner Marschälle gehangen. An dem Morgenschein, den sie für Europa und insbesondere für das deutsche Bürgertum einmal bedeutet hatten, hielt er auch noch fest, als längst nur noch ein trüber Dunst von Pulver und Blut am Horizont seine Stelle bezeichnete. Die Anekdote mußte für die Geschichte eintreten. Auch diese Neigung übernahm der Sohn vom Vater, und er frönte ihr jahrzehntelang, bis es ihm schließlich gelang, beides in poetischer Synthese zu verschmelzen. Noch im letzten Gespräch läßt der alte Fontane den Vater auf seine oft und oft erzählten napoleonischen Lieblingsanekdoten zurückkommen (übrigens in einer leitmotivischen Kunst der Verflechtung innerhalb des Ganzen der „Kinderjahre“, wie sie in der deutschen Erzählkunst vor Fontane gesucht werden muß). Bereits früher hatte er berichtet, das Wissen des Vaters nach dieser Seite hin, sei „geradezu stupend“ gewesen: „Ich verwette mich, daß es damals keinen Historiker gab und auch jetzt nicht gibt, der, was französische Kriegsund Personalanekdoten aus der Zeit von Marengo bis Waterloo angeht, auch nur entfernt imstande gewesen wäre, mit ihm in die Schranken zu treten. Wo er alles her hatte, ist mir rätselhaft.“ Noch 1867 gesteht der greise Vater dem Sohne, er „halte an Napoleon fest“ — den Hohenzollern zum Trotz. Aber, noch einmal sei es wiederholt, auch dieses Bekenntnis beschränkt sich auf den Bereich des Anekdotischen — so wie das ganze unerfüllte Leben des Vaters für den alten Fontane nicht zur Fülle der Geschichte gedieh.
Der Dialog zwischen Vater und Sohn, geführt auf einsamem Bergplateau
— unweit der Stelle, wo Louis Henri Fontane wenige Monate später sein Grab finden sollte —, endet in der folgenden Wechselrede:
,„Schuld war, was eigentlich sonst das Beste ist, meine Jugend, und wenn es, nicht lächerlich wäre, so möcht ich sagen, neben meiner Jugend meine Unschuld. Ich war wie das Lämmlein auf der Weide, das ’rumsprang, bis es die Beine brach. 1
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