Stellen der „Kinderjahre“ begegnen wir verwandten Feststellungen, ausgesprochen vom Vater, vor allem auch vom Erzähler selbst. Dennoch besteht kein Zweifel, daß solches Rechthaben für Fontanes Urteil nicht ausschlaggebend war. Die ergreifende menschliche Wärme, mit der der alte Fontane das Bild des Vaters zeichnet, die Anekdote seines verfehlten Lebens erzählt, kommt nicht zustande, obwohl, sondern weil dieser Vater „unrecht gegenüber seiner Frau gehabt und auch ihr Schicksal durch die „Bredouille“, aus der herauszukommen er nie ernsthaft den Willen aufbrachte, verpfuscht hatte. Fontane beschönigt dieses Unrecht nicht, mit dem Herzen aber ist er auf der Seite des Vaters. In einer Aufzeichnung, die sich in seinem Nachlaß fand, steht die Bemerkung: „Unter Umständen gibt es keinen anderen zuständigen Gerichtshof als das eigene Herz.“ Der „Schuldige“ steht ihm näher als der „Gerechte“, vor allem auch: er interessiert ihn mehr. Bereits 1881 schreibt er gelegentlich einmal den Satz nieder: „Das Langweiligste von der Welt ist... die reine, weiße, durch nichts gefärbte Vorzüglichkeit.“
In vielen seiner Romane begegnen wir verwandten Einschätzungen; es genügt auf das Verhältnis Effis zu Instetten hinzuweisen, dessen „Ordnungssinn“ der alte Fontane objektiv keineswegs abschätzig betrachtet wissen wollte. Noch näher steht ein anderes Beispiel. Es ist der kleine Roman „Mathilde Möhring“, den Fontane in der gleichen Zeit verfaßte, in der er an den „Kinderjahren“ arbeitete. Alle Tüchtigkeit und Energie, aller Aufstiegswillen sind darin in der Frau konzentriert; nur durch sie erlangt ihr bequemer und läßlicher, den nüchternen Pflichten und Anforderungen des Alltags zutiefst abholder Mann überhaupt eine bescheidene, wenn auch erfolgversprechende Existenz. Wenige Monate, nachdem er, oder besser Mathilde, dieses Ziel erreicht hat, vereitelt er alle weitergehenden, ebenso kühn wie bedenkenlos ins Werk gesetzten Pläne und Berechnungen seiner Frau auf die unwiderruflichste Weise: er stirbt. Darf man darin eine höhere Rechtfertigung seiner Natur sehen, vom Dichter entgegengestellt dem Karrierestrebsn der Frau? Fast scheint es so. Wie dem auch sei, wieder begegnen wir dem gleichen Verhältnis. „Recht“ hat die Frau, die Sympathie des Dichters ist auf seiten des Mannes. Ihn stattet er mit Zügen und Neigungen aus, die ihm selbst - und durch ihn hindurch dem Vater — eignen. Die Frau, Mathilde Möhring, aber bringt er auf .eine so abgefeimt verschlüsselte Weise in einen unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Mutter, daß diese aufschlußreiche Beziehung bis heute übersehen geblieben ist. Zehn Jahre zuvor hat sich Fontane nämlich einmal, scheinbar beiläufig, über die nahe Verwandtschaft der Namen „Mathilde“ und „Emilie“ ergangen (übrigens war „Emilie“ nicht nur der Name seiner Mutter, sondern auch der seiner Frau). Beiden Namen hafte „etwas Festes, Solides, Zuverlässiges“ an, so wird im 13. Kapitel des Romans „Cecile“ geplaudert. Dann heißt es, man höre dabei „das Schlüsselbund“ (Symbol hausfraulicher Ordnung und Macht) und sehe die Speisekammer. „Jedesmal, wenn ich den Namen Mathilde rufen höre“, so läßt Fontane den Sprecher in jeden Zweifel ausschließender Deutlichkeit fortfahren, „seh ich den Quersack, darin in meiner Mutter Hause die Backpflaumen hingen.“ Die kleine Plauderei schließt — als wollte der Dichter im vorhinein auf den „bedeutenden“ Ernst solcher Namenswahl aufmerksam machen — mit dem Satze: „Ja, dergleichen ist mehr als Spielerei, die Namen haben eine Bedeutung.“ (Auch der Name „Möhring“ weist beiläufig auf die Eltern Fontanes. Eine „sehr angesehene“ Rüppiner Tischlersfirma, von der sie ihre nach Schin-
71