In der Tat hätte sich manches leichter für den selbständigen Schriftsteller und bald auch jungen Ehemann und Familienvater Fontane, der jahrelang von schweren materiellen Sorgen bedrückt war, angelassen, wenn er mit stärkerem Rückhalt von daheim hätte rechnen können. Daß das nicht der Fall war, daran trug der Vater die Schuld, und der Sohn war nicht bereit, wortlos über diese Schuld hinwegzugehen. Sein Verhältnis zum Neuruppiner Haushalt der Mutter und Schwester war jahrelang weit enger als das zu dem (zunächst in Eberswalde-Neustadt, sodann in einem kleinen Häuschen in Schiffmühle bei Freienwalde) vereinsamt lebenden Vater.
In der Rückschau des alten Fontane entstand ein anderes Bild. Vorbereitet worden war es noch in den letzten Lebensjahren des Vaters. Wir haben dafür ein schönes Zeugnis in dem Briefe, den einer, der es besser als die meisten anderen wußte, Bernhard v. Lepel, wenige Tage nach dem Tode Louis Henri Fontanes an den Freund richtete: „Dein Vater hat ein hohes Alter erreicht und seine letzten zehn bis fünfzehn Jahre in stiller Zurückgezogenheit verlebt, die ihm Befriedigung gewährte. Ich glaube, Du kannst Dir sagen, die Freude seines Alters geworden zu sein, und wirst und darfst darin eine stille Genugtuung empfinden, wenn Du seiner gedenkst. Nicht jeder kann das so!“ (11. 10. 1867).
Widerspiegelung dieses Verhältnisses ist das letzte Gespräch zwischen Vater und Sohn aus den „Kinderjahren“. Deutlicher als je trat in diesem „autobiographischen Roman“ die Grundkonstellation Fontanes zum Vater wieder hervor. Zwar werden auch hier noch Beispiele egoistischer Härte des Vaters gegenüber dem Knaben erzählt, so etwa, daß der Vater ihn aus purer Sparsamkeit mit minderwertigen Medikamenten behandelt habe. Von einer „Schuld“ des Vaters an einem fehlgeleiteten Schicksal des Sohnes aber kann für den alten Fontane keine Rede mehr sein. Im Gegenteil werden die Anklagen des Briefes von 1849 über vier Jahrzehnte später in den „Kinderjahren“ ausdrücklich zurückgenommen, ja in ihr Gegenteil verkehrt. „Wie er ganz zuletzt war, so war er eigentlich“, diesen Satz, angewandt auf den Vater, hatte der alte Fontane, wie wir wissen, auch für sich selbst geschrieben. Nicht „Pietät“ war es (der Schriftsteller Fontane hielt von ihr, insofern es sich um Schönfärberei handelte, immer weniger, je älter er wurde), wenn der alte Fontane den Vater aus der Sicht von „ganz zuletzt“ beurteilte, vielmehr die Tatsache, daß er im Schicksalsbild des Vaters das eigene wiedererkannte und herausarbeitete. Alle schuldhaften Schwächen und Verfehlungen waren in dieser Sicht zwar nicht eliminiert (insofern ist die Darstellung des Vaters alles andere als 1 „pietätvoll“, vor allem, wenn man sie mit der Tonart anderer deutscher Autobiographien vergleicht), sondern aufgehoben. Es ist in unserem Zusammenhang sehr bezeichnend, daß das Porträt der Mutter nicht einmal Ansätze zu einer derartigen Einschätzung von „ganz zuletzt“ aufweist. Sie hat „recht“ gehabt und behalten in allen Existenzfragen (in den anderen keineswegs) von der ersten bis zur letzten Zeile der „Kinderjahre“; und damit genug.
Nur dem Vater wird eine „Zurücknahme“ zuteil. Sie findet sich im vierten Kapitel der „Kinderjahre“, unmittelbar im Anschluß an den Bericht über die fragwürdigen pharmazeutischen Experimente an dem Knaben. Indem sie unvermittelt fast ein Menschenalter überspringt, macht sie wortlos deutlich, wie sehr es dem alten Fontane bei ihr um eine Aufhebung in größeren Schicksalszusammenhängen ging. Das einzelne Kindheitsfaktum soll und muß Anekdote bleiben; die Akzente wer-
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