Heft 
(1966) 3
Seite
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Prädistination und soziale Determination in Fontanes Romanen hatte Dr. Dietrich Sommer (Martin-Luther-Universität, Halle/Witten­berg) als Thema gewählt:

Als ein umgreifendes, Welt und Atmosphäre schaffendes Handlungs­gerüst zeichnet sich in Fontanes ,Vor dem Sturm ein allgemein histo­risches, gewissermaßen .offizielles politisches und militärisches Geschehen ab. Diesem Geschehen eingeordnet und von ihm bestimmt, vollzieht sich unter Führung des Junkers Berndt von Vitzewitz die lokale Insurrektion im Raume Barnim-Lebus. Der lokale Aufstand bleibt stets auf das Hinter­grundgeschehen bezogen, zunächst als Widerspruch, vom dritten Band an als Übereinstimmung zwischen König, preußischer Regierung und den Aufständischen. Zum dritten beansprucht eine verwickelte Liebeshand- lung wachsende Aufmerksamkeit.

Die Grundkonstellation der Liebeshandlung ist durch zwei Geschwister­paare gegeben, durch Lewin und Renate von Vitzewitz und durch die Kinder des aus Polen emigrierten Geheimrats von Ladalinski. Die wechselseitigen Verbindungen scheitern. Nach schwerer innerer Krise findet Lewin zu Marie Kniehase, der Pflegetochter des Dorfschulzen. Es erfüllt sich eine Neigung, die selbst kühnster Vorurteilslosigkeit unge­wöhnlich erscheinen muß. Scheitern und Erfüllung aber sind an die Grenzen geknüpft, welche die individuelle Natur den einzelnen Gestalten setzt...

Innerhalb des militärisch-politischen Geschehens bezieht sich die Treue auf den französischen Bundesgenossen und Gegner, auf Land und Heimat und auf den König. Die Treue gegenüber dem Feind bewährt sich in offenem, regulärem Kriege. Treue zum König gilt nur bedingungsweise, nämlich sofern sie der König durch seine Treue zum Land, zu ,Haus und Hof, zu ,Erde und .Scholle, zur Heimat im weitesten Sinne rechtfertigt. So werden Land und Heimat vorübergehend zum eigentlichen Bezugs­punkt der natürlichen Treue. Hierin hätte der Ansatz zu einer demokra­tischen, ja revolutionären Gesellschaftsperspektive liegen können, wenn dieser Bezug nicht durch traditionelles Denken der entscheidenden Ge­stalten beeinträchtigt worden wäre_

Noch zwölf Jahre später bekennt Fontane, daß alles was er in dem Roman gegeben habe, nichts als der Ausdruck seiner persönlichen Natur und einer bestimmten Welt- und Lebensanschauung gewesen sei. Diese persönliche Prägung des Romans, seine anrührende .Echtheit, erklärt zu­gleich, weshalb das Werk keine nachhaltig wirkende, repräsentative Ge­sellschaftsdarstellung hatte werden können. Fontanes damalige Welt- und Geschichtsauffassung, seine Haltung zur Evolution von 1848, zur Reichseinigung, zur Gründerzeit und zu sich selbst schlossen diese Mög­lichkeit jedenfalls vorerst aus.

Der Fall des Schach von Wuthenow

war Gegenstand der Darlegungen von Professor Dr. Walter Müller- Seidel (Universität München):

Das literarische Bewußtsein einer Nation ist eine unbestimmte und wohl auch unbestimmbare Größe. Von der Parteien Haß und Gunst ver­wirrt, schwankt so manches .Charakterbild in der Geschichte unserer Dichtung. Die gestern noch Lieblinge des Lesepublikums waren, sind es heute nicht mehr; und die gestern noch vergessen waren, sind heute vielfach die begehrten Texte der Interpreten. Theodor Fontanö* hat nie

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