Heft 
(1967) 4
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sehr ergriffen. Es ist viel Wahres darin. Und ich schreibe für einen Ver­urteilten, Sterbenden, Toten! Es ist entsetzlich!

Bei uns geht es schändlich her! Verwaltung, Magistrat, Gerichte, Polizei, mit Konstablern, Militär und Bürgerwehr, alles ist in die Wette reaktio­när, im Widerspruch mit allen ausgesprochenen Grundsätzen, mit den offenbarsten Rechten des Volkes. Täglich geschehen die brutalsten An­griffe, die hinterlistigsten Niederträchtigkeiten, die Tagesblätter rügen -und schreien, doch ohne Erfolg.-Hie Regierung spielt ein arges Spiel mit dem Volke! Die Nationalversammlung schweigt dazu. Weh ihnen, es wird ihnen schon heimkommen!

Und ich kann wünschen, daß dieses Preußen an die Spitze von Deutsch­land komme? Mit diesen Neigungen, Gewöhnungen, Tücken und Gewalt­samkeiten? Mit den Bunsen, Radowitz und all den Günstlingen und Ränkemachern der früheren Zeit? Nein, dieses wahrlich nicht, sondern ein andres Preußen, ein volkstümliches, freies, wie ich es voraussetze! 31

Varnhagens spätere, gelegentlich in seinen Tagebüchern anzutreffende Versuche, seine politische Stellung zu fixieren, haben ihren Grund in der ihm mehr oder weniger bewußt gewordenen Empfindung, im Jahre 1848 nicht das für die Sache der Revolution gegeben und geleistet zu haben, was er seinen Kenntnissen und Erkenntnissen nach hätte geben und leisten müssen. Seine ohnehin irrealen Hoffnungen auf einandres Preußen konnten sich nicht erfüllen, und so wuchs in den düsteren Jah­ren der Reaktion seine Erbitterung gegen dieverruchte Wirtschaft, gegenUnredlichkeit, Lüge und Tücke ... in allen Regierungen Europas 32 immer mehr. Einzigen Trost und einzige Hoffnung schöpfte er nun aus demherrlichen Völkeraufschwung im großen Jahr 1848. Während Fon­tane, der im Sturmjahr dem greisen Varnhagen an Konsequenz und Ein­satzbereitschaft überlegen gewesen war, in den fünfziger Jahren im har­ten Kampf um die bloße Existenz nicht ohne innere Krisen von links nach rechts rückte, benutzte Varnhagen die ihm noch verbleibenden weni­gen Jahre, um in seiner selbstgewählten Rolle als Chronist neben seinen Tagesbeobachtungen auch seine Gedanken über die 48er Revolution niederzulegen, in der er den Höhepunkt der deutschen Geschichte er­blickte. Die historischen Perspektiven, die Varnhagen in seinen letzten Jahren gab, sind bei einer gerechten Beurteilung dieses schwer erkenn­baren, oft zwiespältig erscheinenden Mannes unbedingt zu berücksichti­gen. Unverändert bewahrte er seinen Glauben an das Volk, das sich 1848 edel und groß gezeigt hatte und das einst triumphieren würde.Es zieht in Wahrheit alles zur Republik, so schrieb er Ende Januar 1851, also zu einer Zeit, da die Monarchien wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Nur das Erlebnis der Revolution und der darauf folgenden grausamen Reaktion konnten dem einst königstreuen Varnhagen diese

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