GÜNTER JÄCKEL (Dresden)
Fontane und der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 *
* Die Form einer populärwissenschaftlichen Einleitung zu einem Band .Wanderungen durch Frankreich. — Erlebtes 1870/71' (der 1970 im Verlag der Nation, Berlin, erscheinen wird und z. T. bisher unveröffentlichtes Material über Fontanes Kriegsgefangenschaft enthält) bedeutete den Verzicht auf Anmerkungen und Quellenangaben. Die vorliegende nur leicht überarbeitete Fassung hat dies beibehalten. Kundige Leser werden indessen erkennen, wie sehr der Verfasser der Fontane-Literatur verpflichtet ist — nicht zuletzt der hervorragenden Monographie von Hans-Heinrich Reuter (Verlag der Nation, Berlin 1968).
I
In die Literaturgeschichte ist Theodor Fontane als einer der großen deutschen Romanschriftsteller des 19. Jahrhunderts eingegangen. Doch über den Deutsch- Französischen Krieg von 1870/71 hat er weder Romane geschrieben noch Balladen — nicht über die großen Ereignisse und nicht über die eigenen Erlebnisse, die unmittelbar damit verknüpft waren. Was in diesem Buch berichtet wird, ist kein Spiel der Phantasie. Die Personen der Handlung sind nicht erfunden; sie haben gelebt. Die Ähnlichkeiten sind nicht zufällig, sondern beabsichtigt; die Ereignisse liegen ein Jahrhundert zurück. Unzählige haben beschrieben, was sich in jenen zehn blutigen Monaten zwischen dem Sommer 1870 und dem Frühling 1871 in Frankreich zugetragen hat: Feldherren und einfache Soldaten, Staatsmänner, Philosophen, Politiker, Journalisten, Dichter — aus Beflissenheit oder aus Ergriffenheit, um zu beschönigen oder zu erhellen. Das meiste davon ist vergessen. Die Erinnerungen, die dieses Buch enthält, verdienen noch immer, gelesen zu werden.
Der Mann, der sie aufgezeichnet hat, war dreizehn Jahre lang Zeitgenosse Goethes; aber die Väter oder Großväter der heutigen Leser hätten ihm am Ende des 19. Jahrhunderts in Dresden oder Berlin begegnet sein können: .Als ich ihn das letztemal sah, etwa zwei Monate vor seinem Tode, war das mitten im tosenden Lärm der Weltstadt... Da stand er vor dem Palast-Hotel, den blaugrünen schottischen Shawl locker um die Schulter, stand allein und blickte halb über das Gewühl hinweg, mehr in der Stellung eines Lauschenden als eines Schauenden. Fast erschrak ich ein wenig, als ich ihn sah: so alt schien er mir plötzlich geworden, so nahe dem Verfall. Aber dennoch lag etwas ungemein Ehrwürdiges in der ganzen Erscheinung. Er schien völlig in Sinnen verloren, beinahe der Welt schon entrückt. Etwas wie ein kindliches, seliges Staunen, wie dankesfrohes Mitgenießen lag auf seinen Gesichtszügen, in denen die Augen einen gleichsam verklärten Glanz hatten. Was mochte in ihm Vorgehen in dieser Minute? Sah er noch einmal alles in sich, das er so gut kannte und so treu liebte? Wogte in ihm ein Erinnerungsbild an jene Zeiten, die er gleichfalls kannte und miterlebt hatte, wo dieses alles so ganz anders war, so vorortlich-primitiv, mit simplen Volksgärten und bedächtig vorüberhumpelnden Kremsern, mit sich dehnenden Blachfeldern und fern aufragenden Fabrikschloten? Gedachte er längst verlebter Stunden mit Freunden, witzreichen und schwärmenden, die nun bereits die Erde deckte? Schwanke Träume schienen ihn leise zu bewegen .. .' (Franz Servaes: .Theodor Fontane. Ein literarisches Porträt' 1899).
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