Heft 
(1970) 10
Seite
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Als Theodor Fontane am 30. Dezember 1819 in Neuruppin geboren wurde, lag über der Goethezeit schon Dämmerung. Im gleichen Jahr, in dem der ,West- Östliche Divan' erschien, wurden auf Betreiben Metternichs die Karlsbader Beschlüsse gefaßt. Karl Marx aber ist ein Jahr älter, Friedrich Engels ein Jahr jünger als der märkische Apothekersohn. Als er am 20. September 1898 starb, waren im Frührot eines neuen Welttages die Menschen des vierten Standes nicht mehr zu übersehen: Vor seinen Augen beschritten sie in Gerhart Hauptmanns Drama .Die Weber' die Bühne; zögernd erscheinen sie in seinen eigenen Werken und Briefen; von den Höhen um St. Denis hat er Paris ge­sehen, wo die Commune kämpfte und starb.

Aus mancherlei Gründen lassen die Berichte, die der einundfünfzigjährige Fontane über den Krieg in Frankreich gegeben hat, die kühle, distanzierte Betrachtungsweise des Chronisten vermissen. Gewiß, er hat nicht zu den direkt Agierenden jenes Kriegsgeschehens gehört, und vieles erfuhr er erst Monate später von Augenzeugen. Aber ist er nur ein unbeteiligter, abseits­stehender Schlachtenbummler gewesen?

.Nicht doch, ich bin dabeigewesen. Wie einer das Schmerzensbuch von Doktor Faustus gelesen haben und dann noch sagen kann, ich sei nicht dabeigewesen, Ferne und persönliche Sicherheit hätten mich gehindert, stärker und tiefer dabei zu sein, als so mancher, der physisch dabei war, das verstehe, wer mag und kann.' So verteidigt Thomas Mann, wohl der bewußteste Erbe Fonta­nescher Erzählkunst, das Recht und die Pflicht des Schriftstellers, Anteil zu nehmen. Und so, wie Thomas Manns Roman über die Höllenfahrt des deutschen Volkes unter dem Faschismus Bände belangloser Augenzeugenberichte auf­wiegt, so finden sich in den persönlichen Erinnerungen, Berichten und Re­flexionen Fontanes mehr Wahrheiten über den Krieg, als in allen frischfröh­lichen Schlachtenschilderungen, draufgängerischen Gedichten, .Adjutantenritten' oder vaterländischen manipulierten Memoiren der Veteranen, die in unsäglich ausgestatteten Prachtbänden verkündeten, ,wie wir unser Eisern Kreuz er­warben'.

Im übrigen ist Fontane mehrfach selbst .dabeigewesen', wo sich im 19. Jahr­hundert große geschichtliche Ereignisse vollzogen haben; Im März 1848 war der neunundzwanzigjährige Apotheker zwar mehr distanzierter Beobachter als revolutionärer Akteur (so sieht er sich 50 Jahre später in den Erinnerungen /Von Zwanzig bis Dreißig'); aber im folgenden Herbst veröffentlichte er in Berliner und Dresdner Zeitungen Aufsätze, in denen er das Recht des Volkes auf Revolution verteidigt.

Sie sind der Auftakt von Fontanes publizistischer Tätigkeit. Diese sollte ihn im Laufe der folgenden zwei Jahrzehnte zuerst an die Seite des kämpfenden Volkes, dann nach England und schließlich in die Redaktionsstuben der junkerlich-konservativen .Kreuzzeitung' führen. War er noch im Sommer 1850 bereit, in der schleswig-holsteinischen Befreiungsarmee gegen die dänischen Unterdrücker zu kämpfen, so brachten die folgenden Jahre Verzicht, Kom­promisse und Resignation. Vielleicht war Fontane als Mensch und Künstler nie so gefährdet wie zwischen seinem dreißigsten und fünfzigsten Lebensjahr, als er das Wagnis unternahm, im Preußen des Nachmärz seine Familie als Schriftsteller zu ernähren, und ständig von Anfechtungen, Armut, Krankheit

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