Heft 
(1970) 10
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Jener .Zusammenbruch', dessen Augenzeuge er teilweise im französischen Hinterland wurde, das war ja nicht nur die Niederlage des französischen Heeres am 1. September in Sedan gewesen (die Emile Zola später in seinem großen Roman ,Le debacle' gestaltet hat). Es war das Ende des Bonapartismus überhaupt, jenes Traums von der Wiederherstellung des napoleonischen Kaiserreichs von 1812, den Louis Bonaparte, Neffe des ersten Kaisers, seit 1852 unter den Bedingungen des stark entwickelten französischen Kapitalismus zu verwirklichen gesucht hatte. Diese ehrgeizigen Pläne mußten zum Konflikt mit den nationalen Einigungsbestrebungen in Deutschland führen, die seit den sechziger Jahren von Preußen unter Führung Bismarcks forciert wurden. Der Krieg, von Bismarck bewußt provoziert, schien sich im Juli 1870 aus dynasti­schen Gegensätzen zu entwickeln. Dennoch war er von deutscher Seite zu­nächst ein Akt nationaler Verteidigung, an dem die vier Jahre zuvor besiegten deutschen Südstaaten wie Bayern, Sachsen oder Württemberg teilnahmen. Die Welle nationaler Begeisterung ergriff in jenem Sommer auch Fontane, freilich ist seine Zurückhaltung charakteristisch: ,Daß ich statt der patriotischen Er­regung (ich kann mir nicht helfen, unendlich viel Blech; nur die Thronrede und die Adresse waren ausgezeichnet) hier Stille habe, tut mir wohl . . .', schreibt er am 23. Juli 1870 an den Freund Carl Zöllner.

Immerhin verdeckten die allgemeinen Leidenschaften zunächst, daß es der preußischen Militärkaste von Anfang an um eine Okkupation Frankreichs und um territoriale Gewinne ging. Schon am 30. August 1870 erschien in den .Preußischen Jahrbüchern' ein Artikel des konservativen Historikers Heinrich von Treitschke, in dem die Annexion Elsaß-Lothringens ohne Volksabstimmung verlangt wurde (.Was fordern wir von Frankreich?'). Dementsprechend wurden in der .Zweiten Adresse des Generalrates der Internationalen Arbeiterasso­ziation über den Deutsch-Französischen Krieg' die Ereignisse nach Sedan von Karl Marx als Eroberungskrieg bezeichnet. An diesem 9. September, als die Adresse erschien, wurden in Braunschweig die Mitglieder des sozialdemokra­tischen Parteiausschusses in Ketten auf die Festung Lötzen gebracht; doch vom 21. September an erschien im Kopf jeder Nummer der sozialdemokra­tischen Zeitung .Der Volksstaat' die Forderung .Ein billiger Frieden mit der französischen Republik! Keine Annexion! Bestrafung Bonapartes und seiner Mitschuldigen!'.

Inzwischen kämpfte und starb die Jugend beider Nationen, jede im guten Glauben an die Gerechtigkeit ihrer Sache, auf den Schlachtfeldern. Am Nach­mittag des 18. August stürmte die preußische Garde, anfangs schweigend und ohne einen Schuß abzugeben, im Feuer der überlegenen französischen Infan­teriegewehre die Höhen von St. Privat und ließ jeden Vierten als Toten zu­rück. ,Es waren die deutschen Industriearbeiter, welche mit den ländlichen Arbeitern zusammen die Sehnen und Muskeln heldenhafter Heere lieferten, während sie ihre halbverhungerten Familien zurückließen', schreibt Marx in der .Zweiten Adresse des Generalrates über den Deutsch-Französischen Krieg'. Die französischen Soldaten kämpften nicht minder tapfer, aber ihre Führung war vom ersten Tage an schlecht, die militärische Planung konfus, das System korrumpiert.

In Deutschland folgte eine Siegesnachricht der anderen: Weißenburg, Wörth, Spichern; in Sedan mußte sich Napoleon III. mit 83 000 Mann ergeben; Mar-

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