Heft 
(1970) 10
Seite
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Der deutsche Journalist, der zum ersten Male seit Heinrich Heines .Französi­schen Zuständen' seinen Landsleuten ein Bild des Nachbarlandes entwirft, er­lebte als Gefangener eine Nation, die aus dem Widerstand gegen die Okku­pation und aus der Abrechnung mit den Schuldigen an der Niederlage eine soziale Revolution zu verwirklichen suchte. Freilich: Die Festungsmauern be­grenzten nicht nur den Blick des Gefangenen auf die äußeren Vorgänge, sie setzten ihm auch Grenzen, wenn er die sozialen Aspekte der geschichtlichen Umwälzungen zu erörtern suchte. Es ist zunächst die verständliche Furcht vor persönlichen Folgen, wenn er mit tiefem Unbehagen an eine Weiterführung der Revolution unter dem Druck der Volksmassen denkt. Es ist aber zugleich die Ratlosigkeit eines Menschen, der vor wenig mehr als 20 Jahren Augen­zeuge einer verlorenen Revolution wurde und dessen Vorstellungswelt in starkem Maße konservativ und preußisch-traditionsgebunden war. Ist es ein Zufall, daß die Heimfahrt durch das von revolutionären Leidenschaften er­schütterte Land nur in einigen nächstlichen Episoden gezeigt wird?

Mögen manche kritischen Bemerkungen an den französischen Zuständen im Blick auf das deutsche Publikum geschrieben sein (die erste Fortsetzung von .Kriegsgefangen' erschien drei Wochen nach Fontanes Heimkehr in der Weih­nachtsnummer der .Vossischen Zeitung'), so blieb die Aufnahme des Werkes dennoch recht unterschiedlich. .Ich muß Dir, lieber Vater', so schreibt der preußische Leutnant George Fontane am 2. Februar 1871 aus St. Denis, ,und auch im Namen aller unserer Herren einen kleinen Vorwurf machen, weil Du die Franzosen in Deinen Schicksalen zu sehr herausstreichst'. Leidenschafts­losigkeit, Vorurteilslosigkeit und Sachlichkeit sind die moralischen Qualitäten dieses Berichtes, der von dem damals grassierenden Chauvinismus in Deutsch­land weit entfernt ist. Im November 1871 erschien er als Buch.

III

Die ursprünglich geplante Reise nach Frankreich trat Fontane am Ostersonn­tag, dem 9. April 1871, an, ein halbes Jahr nach seinem ersten Aufbruch. In­zwischen hatten sich die äußeren und inneren Voraussetzungen für das Unter­nehmen völlig gewandelt. Er reiste nun als ein freier, in seinen Entschlüssen unabhängiger Beobachter, nicht mehr als Gefangener, dessen Blick von Mauern, Gitterstäben und Furcht begrenzt war. Und das Land, das er jetzt wiedersah, war Paris ausgenommen nicht mehr im Zustand einer revolu­tionären Erhebung, wie in jenen Herbstwochen nach dem Sturz des Kaiser­reiches, sondern es war okkupiert. Entscheidende geschichtliche Vorgänge hatten sich seitdem vollzogen: Am 18. Januar 1871 war in Versailles der preu­ßische König Wilhelm I. zum deutschen Kaiser proklamiert worden dem Wesen des feudal-monarchistischen Militärstaates entsprechend, in einem er­oberten Land, ohne Vertreter des Bürgertums, geschweige der Arbeiterklasse. Eine Woche darauf bat das seit fünf Monaten ausgehungerte Paris um Waffen­stillstand, einen Monat darauf, am 26. Februar, wurde in Versailles der Präli­minarfrieden unterzeichnet. Doch nur an den ersten drei Märztagen waren deutsche Truppen in der Hauptstadt, die weiterhin von den etwa 300 000 Mann der meist proletarischen und kleinbürgerlichen Nationalgarde beschützt wurde. Als diese von den Truppen der bürgerlichen Regierung unter Ministerpräsi­dent Thiers entwaffnet werden sollte, brach am 17. und 18. März der Aufstand

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