Heft 
(1970) 10
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aus, der zur Bildung der Pariser Commune führte. Ähnliche Versuche in Lyon und Marseilles konnten von der Regierung, die nach Versailles geflüchtet war, unterdrückt werden. Die Pariser Arbeiter aber suchten in den nächsten zehn Wochen zum ersten Male in der Geschichte der Menschheit den Traum eines sozialistischen Staates zu verwirklichen. Bedrängt von äußeren Feinden, unerfahren in der Verwaltung und der Führung des Kampfes, gelang es ihnen dennoch, die Verwirklichung einer Reihe bedeutender sozialer Gesetze in An­griff zu nehmen, bevor in der Pfingstwoche ihr letzter Widerstand gebrochen wurde. Etwa 50 000 Männer, Frauen und Kinder wurden von den Versailler Truppen während der erbitterten Kämpfe und danach erschossen und erschla­gen, über 3000 starben in den Gefängnissen, 13 700 wurden zum Tode ver­urteilt oder deportiert. .Und doch war dies die erste Revolution, in der die Arbeiterklasse offen anerkannt wurde als die einzige Klasse, die noch einer gesellschaftlichen Initiative fähig war', schreibt Karl Marx im Mai 1871. Fontanes Einsichten an jenen Erkenntnissen messen zu wollen, die Karl Marx in seiner glänzenden Analyse ,Der Bürgerkrieg in Frankreich' gibt, wäre aus verschiedenen Gründen verfehlt. Dem Auge des Schriftstellers zeigte sich Ge­schichte als das Gegenständliche, sinnlich Überschaubare. Wo sich dieser Blick­winkel mit dem tatsächlichen Geschehen in Übereinstimmung befand, kommt den Berichten durchaus ein historischer, dokumentarischer Wert zu. Wohl zum letzten Male in der Geschichte der europäischen Kriege (nach Jena-Auerstedt, Borodino, Leipzig oder Waterloo) waren die Entscheidungsschlachten des Krieges noch eng lokalisiert, und Fontane vermag sie in der Gesamtschau zu rekonstruieren. Dabei zeigt er die Präzision des in militärischen Fragen Ge­schulten und die formende Plastizität des Journalisten. Amiens, St. Quentin, St. Denis, Metz, Sedan, Bitsch sind Schauplätze, auf denen sich die Geschichte als visuell faßbares Geschehen vollzogen hat: in Planungen, Aufmärschen, Gefechten, als Sturmangriffe, als letzte große Reiterschlachten, die auf den Feldern Europas geschlagen wurden, als Rückzüge und Belagerungen; und dies alles bestimmt die äußere Gliederung des Berichtes ,Aus den Tagen der Okkupation'. .Historischen Grund und Boden zu betreten hatte zu jeder Zeit einen besonderen Reiz für mich, und Schlachtfelder werd' ich denn auch wohl in Westeuropa nicht viel weniger als Hundert gesehen haben', schreibt Fon­tane in seiner Autobiographie ,Von Zwanzig bis Dreißig'.

Der Blick von verlassenen Feldherrnhügeln herab in die Landschaft der Ge­schichte, ihre räumliche und ihre zeitliche Dimension, ist bezeichnend für Fontanes erzählerische Methode in seinen Berichten über Frankreich. Aber w as er von dort aus sieht, sind nicht die großen Zusammenhänge, sondern scharf umrissene Einzelheiten. Die besten Stellen in dem Buch finden sich darum dort, wo der Historiker und Reporter aus der allgemeinen Erörterung ms Erzählerische ausbricht, ins Anekdotische. Hier ist für ihn Geschichts­darstellung möglich.. denn historischen Anekdoten habe ich nie wieder­

stehen können, bin auch jetzt noch der Meinung, daß sie das Beste aller Historie sind. Was tu' ich mit den Betrachtungen? Die kommen von selbst, wenn die kleinen und großen Geschichten, die heldischen und die mesquinen, zu mir gesprochen haben', bekennt er in seinen Erinnerungen .Von Zwanzig bis Dreißig'. Fontane war ein scharfsichtiger Beobachter, der aus unmittel­barer persönlicher Anteilnahme über die Wirklichheit reflektierte. Ein philoso-

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