Heft 
(1970) 10
Seite
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phischer Denker, der die Wirklichkeit ordnend zu durchdringen suchte, war er nicht.

Den Pariser Ereignissen im Frühling 1871 konnte er aus seinem traditions­gebunden und an Einzelheiten orientierenden Geschichtsbild nicht gerecht werden. Er sah nicht den welthistorischen Versuch einer neuen Form mensch­lichen Zusammenlebens; er sah nur die Schrecknisse und Makel des Augen­blicks. Seine Ratlosigkeit verweist ihn in die Rolle des distanzierten Beobach­ters, der seinen Platz plötzlich in Kreisen hat, von denen er sich seit dem Austritt aus der ,Kreuzzeitung' abgewandt hatte. Was in der Stadt, die er von St. Denis aus beobachtete, wirklich vor sich ging, konnte er so wenig erkennen, wie die anderen Beobachter. ,Das Paris des Thiers war nicht das wirkliche Paris der .schoflen Menge', sondern ein Phantasie-Paris. . ., das Paris der Boulevards, männlich wie weiblich, das reiche, das kapitalistische, das ver­goldete, das faulenzende Paris, das sich jetzt mit seinen Lakaien, seinen Hoch­staplern, seiner literarischen Zigeunerbande und seinen Kokotten in Versailles, Saint-Denis, Rueil und Saint-Germain drängte; für das der Bürgerkrieg nur ein angenehmes Zwischenspiel war; das den Kampf durch Fernglas betrach­tete, die Kanonenschüsse zählte und bei seiner eigenen Ehre und der seiner Huren schwor, das Schauspiel sei unendlich besser arrangiert, als es im Theater des Porte Saint-Martin je gewesen.' So beschreibt Marx im .Bürger­krieg in Frankreich' den Kampf der Commune wie auch Bertolt Brecht sein Drama .Die Tage der Commune' mit diesem bittren Bilde schlicht.

Dort, inmitten der Zuschauer, an der .Mühle von Sannois', stand am 20. April auch Fontane: .Hier sahen wir, fast am Rande des Vorsprungs, blickten nieder in die Arena und sahen, wie die Versailler und die Föderalen, wie die dreifar­bige und die rote Republik miteinander rangen. Für den Philantropen traurig, für den Maler entzückend. Zu unseren Füßen, eine Halbinsel bildend, zog die Seine eine mächtige Schleife, an deren Ufern, nach außen und innen zu, Ar- genteuil und Genevilliers, Colombes und Asnieres im funkelnden Sonnenlichte lagen. Lachendstes, friedlichstes Bild! Aber in diesem Augenblick blitzte es unten von Bajonetten; in langer Kolonne debouchierten Versailler Bataillone, passierten die Brücken und schwenkten links, um die bei Asnieres verschanzten Roten in Flanke und Rücken zu fassen. Zugleich hüllte sich der ehrenbreit­steinartig daliegende Mont Valerien in weihe Rauchwolken, und in der näch­sten Sekunde rollte ein dumpfer Donner erst über die Landschaft und dann langsam über das Häusermeer von Paris hin. So verging eine Viertelstunde. Wir plaudern, wir berechnen die Chancen des Erfolges ...'

Räumliche und innere Distanz zu den Ereignissen kann leicht zu Inhumanität führen. In seinem .Tagebuch 19461949' berichtet Max Frisch, wie ihn im Flugzeug jäh die .luziferische' Entdeckung überfällt, er könne durchaus im­stande sein, Bomben auf die winzige Welt tief unter sich zu werfen: ,... man sieht kein Blut, hört kein Röcheln, alles ganz sauber, alles aus einem ganz unmenschlichen Abstand, fast lustig.' Fast lustig geht es auch an der Mühle von Sannois und danach im Gasthaus zu, als die Herren, von einem Gewitter­guß durchnäßt, eine Stärkung zu sich nehmen. In dieser Szene hat Fontane unfreiwillig Gefahren gezeigt, die ihm als preußischen Beamten oder Hof­dichter hätten drohen können.

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