Indem Fontane auf diese Weise die Zeit als das Medium der Erinnerung in seinen Bericht einbezieht, weitet sich die Gelegenheitsarbeit immer wieder zur Chronik eines vergangenen Menschentums. Kriegskorrespondent, Historiker und Dichter vertauschen dabei wechselweise ihre Rollen. Die Wanderungen durch ein feindliches Land erhalten im Nachdenken über die Geschichte ein Element des Poetischen. Die Toten aller Generationen sind dem Dichter, ganz im wörtlichen Sinne, gegenwärtig. Er kann sie herbeizitieren wie irgend einen Lebenden! Durch die Straßen von Metz ziehen vor seinen Augen nicht nur die deutschen Soldaten seiner Tage, sondern auch König Heinrich II. und Kaiser Karl V.; steht in .jenen dunklen Oktobertagen' der Verteidiger der Festung, Marschall Bazaine, und weiß im Angesicht der Standbilder von Ney und Fabert, daß er versagt hat. .Wieviel Hoffen und Bangen knüpfte sich, durch zehn lange Wochen hin, an den Namen dieses Orts!... was litt und starb hier alles; der Krieg kleidete sich hier bunter als ein Markt in Kairo. Nun alles vorüber. Die Brückenbogen aus der Römerzeit ragen malerisch auf und predigen still: Vergessenheit.' Nie läßt jedoch eine elegische Stimmung die Aktualität vergessen. Ziel des Nachdenkens ist immer die Gegenwart, in der Fontane lebt, und die er als Heimat und Welt begreift.
Die Welt, das war in den fünfziger Jahren englische und schottische Geschichte und Gegenwart; Gegenpol zu der geistig und politisch eng gewordenen Heimat. Diese war für Fontane, namentlich in den Jahren des Kompromisses, nur als preußische Lokal- und Landschaftsgeschichte erfahren worden; auf den .Wanderungen durch die Mark Brandenburg'. Nun zeigen die Wanderungen durch das okkupierte Frankreich wieder beides: Weltgeschichte und Lokalgeschichte, die Entscheidungsschlachten des Krieges und die Landschaften, in denen sie sich vollzogen haben.
Noch einmal sollte in diesen Berichten das alte, längst banalisierte Wort des Matthias Claudius erprobt werden: .Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was verzählen.' Aber jene vordergründige Aktualität des Tage, die oft bloße Sensation ist, fehlte diesen Büchern. Dafür kamen sie zu spät, weil der Krieg inzwischen zu Ende war, oder sie trafen nicht den Geschmack des nationalistisch erregten Publikums. Die Berichterstatter der Tageszeitungen waren schneller. Fontane blieb eine andere Aktualität, die der Erinnerung, der Reflexion, des Erfassens von Einzelheiten, die schlaglichtartig Allgemeingültiges erhellen. Indem er über das Große und das Kleine nachdenkt, über Vergangenheit und Gegenwart, die Besatzungsmacht und die von ihr Betroffenen zeigt, die Mühle von Sannois besucht und die zerstörten Dörfer und Städte, den Haß und die Freundlichkeit bemerkt, gewinnt der Bericht eine Totalität in Sicht und Gestaltungsweise, wie sie in der deutschen Literatur jener Jahre nicht wieder erreicht wurde.
Liebe zum Detail und zur Anekdote, das bedeutet im Grunde Verzicht auf Distanz und kühle Abstraktion. Die junge Generation der Naturalisten freilich hätte Fontane mißverstanden, wenn sie darin eine Vorwegnahme ihrer Theo- rien gesehen hätte. Das .Kleine' und .Nebensächliche' ist vielmehr die besondere Form, in der sich Fontanes Humanität kundtut, es ist das ,eigentlich Poetische', das seinem Werk Dauer und Gültigkeit verleiht.
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