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der Gorgo ins Antlitz zu schauen, oder die Rätsel der Sphinx zu lösen. Ein Letztes, Tiefstes, soll den verhüllenden Schleier tragen. Aber eines bleibt ewig wahr daneben: wer es dennoch wagt, trägt den Doppelstempel von Mut und Genie'. Das .Letzte, Tiefste' hat er nie ausgesprochen; aber er hat es gezeigt. Es steht hinter dem Schweigen, oft auch hinter den .Weitschweifigkeiten'.
Wenn er aber ,das eigentlich Menschliche' nicht mehr anekdotisch zu fassen vermag, wird das humorvolle Lächeln über das .Kleine, das Nebensächliche' zur Trauer. Fontanes Begegnung mit Frankreich ist ja nicht nur das Abenteuer der Kriegsgefangenschaft, nicht nur die fesselnd erzählte .Osterreise' durch die Landschaften des Krieges, der Geschichte, der Kunst; es ist auch der bittere Bericht von den Erfahrungen eines Menschen, der ohne Haß und Vorurteile in ein fremdes Land gekommen war, das von den Angehörigen seiner Nation Unrecht erlitten hat, und der nun erkennen muß, daß Lauterkeit und guter Willen des einzelnen machtlos sind vor den Kanonen, den Diktaten der Macht, den aufgeputschten Leidenschaften, der chauvinistischen Überheblichkeit. .Die Bevölkerung ist sehr aufgebracht gegen uns, und wenn wir durch Städte und Dörfer kommen, spüren wir so etwas wie eine Gefahr', schreibt Fontane am 14. Oktober 1870 an seine Frau. — Tragisch ist diese Erfahrung nicht zuletzt deshalb, weil sich hier zum ersten, nicht aber zum letzten Male in der deutschen Literatur Anlaß bot, sie zu gestalten.
Diese Situation menschlich zu bestehen, setzt von beiden Seiten Größe voraus. Fontane hat sie besessen, und er hat gezeigt, daß auch die anderen sie haben, die seine Feinde sein sollten. Äußerungen eines blinden, fanatischen Hasses, der alles Deutsche verurteilt, zeichnet er nie auf, Brüskierungen und Taktlosigkeiten werden nur in wenigen Andeutungen gezeigt; die spontanen Reaktionen des Volkes, nicht immer seiner besten Vertreter, findet er verzeihlich, wo sie sich in Hörweite der Kämpfe abspielen. Immer wieder hebt er die Korrektheit und das Entgegenkommen aller Schichten der Bevölkerung hervor. Der Preuße Fontane fühlt sich vielen Seiten der französischen Mentalität wesensverwandt, nicht in erster Linie, weil seine hugenottischen Vorfahren unter Ludwig XIV. nach Preußen geflüchtet waren, sondern weil er vorurteilslos beobachtet und ehrlich abwägt. Seiner .angeborenen Neigung' gemäß, .jedes Recht und jeden Vorzug zunächst auf Seite des Gegners zu suchen', kommt er spontan zu einer Einschätzung des .Erbfeindes', die einzigartig ist in der deutschen Literatur. Liest man seine Schilderungen der französischen Mitgefangenen in der Zitadelle von Besangon, der Wächter, der Gefängnisaufseher mit ihren Familien, später der Bevölkerung in den vom Krieg betroffenen Gebieten, so spürt man nichts von Unmut eines Beleidigten, nichts auch vom Hochmut eines Vertreters der siegreichen Nation, sondern immer etwas von der .Freundlichkeit der Welt', die ein Grundzug seines gesamten Schaffens ist.
Die meisten seiner Landsleute ließen wenig von dieser Freundlichkeit spüren. Details, Anekdoten darüber leuchten in den Berichten unvermittelt auf; in den folgenden Reflexionen werden sie als generelles Unrecht der Okkupanten begriffen: Die Annexion Elsaß-Lothringens führt zu der Frage nach nationaler Unterdrückung und nationaler Überheblichkeit. Sie wird im Laufe der nächsten 25 Jahre zum Hauptthema von Fontanes Preußen- und Deutschlandkritik.
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