Heft 
(1971) 13
Seite
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II

So also lagen die Dinge, als er sich dem Roman wieder zuwandte. Im November schreibt er an Mathilde von Rohr:Der Roman ist in dieser für mich trostlosen Zeit mein einziges Glück, meine einzige Erholung. In der Beschäftigung mit ihm vergesse ich, was mich drückt: Aber wenn er überhaupt noch zur Welt kommt, so werde ich, im Rückblick auf die Zeit, in der er entstand, sagen dürfen: ein Schmerzenskind. Er trägt aber keine Züge davon. Er ist an vielen Stellen heiter und nirgends von der Misere angekränkelt. .. Ich empfinde im Arbeiten daran, daß ich nur Schriftsteller bin und nur in diesem schönen Beruf mein Glück finden konnte. Anderthalb Jahre später, im April 1878, ist das Werk vollendet. So weit die äußere Entstehungsgeschichte vonVor dem Sturm. Wenn für sie wesentliche Aufschlüsse aus Fontanes Briefen zu gewinnen waren, so bleibt diese Quelle gänzlich unergiebig für die innere Geschichte des Werkes, d. h. für die Wandlungen der ursprünglichen Konzeption und den Kristallisierungsprozeß, der die Hauptpersonen und Hauptmomente Ge­stalt gewinnen ließ. Trotzdem liegen diese frühesten Stadien für uns nicht im Dunkeln. Das Fontane-Archiv besitzt Fontanes nachgelassene Papiere aus dieser Zeit, die in Gestalt von Schreibheften und Notiz­zetteln Einblick in seine Werkstatt gewähren. Es wird darauf noch zurückzukommen sein. Diese Papiere geben aber auch einen Begriff von der Sorgfalt, die der Dichter auf die getreue Schilderung der engeren und weiteren Umwelt seiner Helden verwandte. Er hat nicht nur die Karte des Kreises Lebus stets neben sich auf dem Schreibtisch gehabt, er hat sich auch mit eigenhändigen Skizzen Klarheit verschafft über die Anlage von Dorf und Stadt und genau erwogen, wie etwa die Zimmer des Pfarrhauses auszustatten seien. Inwieweit er bei alledem sich an die unmittelbare Wirklichkeit gehalten und inwieweit er der Phantasie Raum gegeben hat, soll hier zunächst geprüft werden. Die erste Frage, die sich dem einheimischen Leser des Romans aufdrängt, betrifft Hohen- vietz. Welches Dorf verbirgt sich hinter dem freigewählten Namen? Der Dichter macht ja über diesen Hauptschauplatz des Romans derart zahlreiche und genaue Angaben, daß man den Eindruck erhält, eine Identifizierung mit einem der Randdörfer des Oderbruches mußte un­schwer möglich sein. Bei genauerem Zusehen erweist sich das jedoch bald als unmöglich. Nicht nur für die von Fontane geschilderte Dorf­anlage ist kein Modell nachzuweisen, auch die landschaftliche Gesamt­situation läßt sich, soweit sie auf Hohenvietz zu beziehen ist. mit dem Kartenbilde nicht in Einklang bringen. Mit Bestimmtheit können wir soviel sagen: Hohenvietz liegt am westlichen Rande des Oderbruchs zwischen Seelow und Reitwein, westlich vom Manschnower Vorwerk. Dolgelin ist Nachbardorf, Göritz liegt südöstlich davon. Das wäre also etwa die Lage von Friedersdorf, und daß Fontane an diesen Ort gedacht haben muß, ergibt sich schon aus der Tatsache, daß hier die Heimat Ludwigs von der Marwitz war. Jedoch im einzelnen besteht keinerlei Übereinstimmung. Zunächst liegen im Roman Dorf und Schloß Hohenvietz am Fuße des Höhenrandes, und nur die Kirche steht auf der

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