unseres Romans die allerwertvollsten Beiträge enthält. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß es sich um einen Vortrag handelt, der im Jahre 1926 im Kreise der für deutsche Literatur interessierten Studierenden der Universität Amsterdam gehalten wurde — die beste Widerlegung der oft gehörten Ansicht, daß „Vor dem Sturm“ nur innerhalb der märkischen Provinzgrenzen sein Publikum habe. Gemessen an der Normalgestalt des historischen Romans zeigt Fontanes Arbeit die Eigentümlichkeit, daß nicht eine einzige geschichtliche Persönlichkeit in Erscheinung tritt, mit einziger Ausnahme Fichtes, der flüchtig im Kolleg gezeigt wird, und des Prinzen Ferdinand. Ursprünglich war das ganz anders geplant. Schadow und Schinkel, Fichte und Schleiermacher, Henriette Herz und die Rahel, der alte Heim, der Pädagoge Harnisch, die Künstler Genelli und Bardou — diese alle sollten sich im Hause des Berliner Konsistorialrats Chrysander und dem des Wahlpreußen Ladalinski zusammenfinden. Daneben sollte in einem literarischen Zirkel der militärische Adel der Hauptstadt ebenso zu Worte kommen wie die Anhänger Jahns und der romantisch gefärbten, deutsch-nationalen Bewegung: Kaufleute, Musiker, Schauspieler, Studenten u. a. Das Land sollte, der Hauptstadt gegenüber, vertreten sein durch die Kreise um Bernd von Vitzewitz und Tante Amelie. Wenn demnach zu erwarten war, daß der Anteil Berlins dem des Landes Lebus die Waage halten würde, su mußte sich in der Ausführung die Hauptstadt mit einem der vier Bücher begnügen. Damit war nicht nur eine äußerliche Verschiebung der Stoffmassen vollzogen, die ganze Konzeption war auf eine andere Grundlage gestellt. Fontane hatte darauf verzichtet, die treibenden Kräfte der Epoche in vielfältiger Spiegelung dichterisch zu erfassen, er hat das Historische hinter dem Menschlichen zurücktreten lassen. Man erhält einen Begriff von dieser Wandlung, wenn man das winterliche Idyll des ersten Buches mit dem dramatischen Auftakt vergleicht, den der erste Entwurf vorsah: schwälender Haß gegen die fremden Bedrücker, Totschlag an einem Franzosen, Haussuchungen und Verhaftungen. Dies Abrücken vom Historischen brachte es auch mit sich, daß sich die beiden eigentlichen Helden des Romans, Bernd und Lewin von Vitzewitz, weit stärker von ihren geschichtlichen Urbildern lösten, als es ursprünglich in Fontanes Absicht lag. Hinter Bernd von Vitzewitz steht die historische Gestalt Ludwigs von der Marwitz, des Organisators der Lebuser Landwehr und nachmaligen preußischen Generals. Was aber dieser Persönlichkeit das besondere Charakteristikum verleiht, das ist der Kampf gegen die Hardenbergschen Reformen, die er als reaktionärer Vertreter ständischer Ideen führte. War er nicht gewillt, die Vorrechte des Adels preiszugeben, so betonte er andererseits nachdrücklich die besonderen Verpflichtungen, die seinem Stande auferlegt waren. Die sittlichen Kräfte, die im preußischen Bürgertum lebendig waren und die an der Erhebung von 1813 so wesentlichen Anteil haben sollten, verkannte er allerdings völlig. Die Gestalt Ludwigs von der Marwitz hatte schon Willibald Alexis im Auge gehabt, als er seinen Isegrim schrieb. Der Landjunker von der Quarbitz, der aus Grundsatz widerspricht und sich durch die Schroffheit seines Wesens Feinde macht — er ist es, der mit starker Einseitigkeit Charakterzüge des Frieders-
Heft
(1971) 13
Seite
345
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