spielt Fontanes Gedicht „Rußland“ an, so wenig hier auch im Vergleich zum ersten auf private Dinge Bezug genommen wird. Der von einem Unbekannten stammende, kenntnisreiche Nekrolog auf Wolfsohn in der „Wissenschaftlichen Beilage“ der „Leipziger Zeitung“ (Nr. 69 vom 27. August 1965, S. 303 f) gibt an — dies wurde später von Raphael Löwenfeld (1887), Wilhelm Wolters (1910) und Ludwig Geiger (1912) wiederholt —, Wolfsohn sei während seines Aufenthaltes in Moskau eine Professur für „alte Sprachen und deutsche Literatur“ angeboten worden; den „vorteilhaften und ehrenhaften Posten“ habe er aber um der damit verbundenen Forderung willen, seinem jüdischen Glauben zu pntsagen, „mit Rücksicht auf seine strenggläubigen Eltern und wegen des Zwanges, den man ihm auferlegen wollte“, ausgeschlagen.
„Rußland (Einem Freunde, als er nach Moskau übersiedeln wollte)“ stellt die gänzliche Unfreiheit unter dem Zarismus der relativen Freiheit in Deutschland in der ersten Hälfte der vierziger Jahre gegenüber, die ja „unser Krämerleben ob jener Zeit, die kommen muß“, vergessen machen könne. Mit seinen Hoffnung ausdrückenden Versen „wer unbekümmert der ew’gen Kraft des Geistes noch vertraut, ... die gleich dem Meere eine Welt zertrümmert, und eine neue, schönre auferbaut“, erinnert es an Zeilen in „Einem Freunde in Odessa“, in denen „Sonnenboten“ und „Morgenröte“ in Deutschland gegen „Nacht und finstres Graun“ in Rußland ausgespielt werden. Doch sind die enthusiastischen Töne des ersten Gedichts, in dem es heißt, daß hierzulande „mit lauter Kehle Volk und Lied den Freimut ehrt“, in dem zweiten, das für die deutsche Gegenwart Worte wie „Dürre“ findet, und der Möglichkeit Ausdruck gibt, daß „ob so langem Harren der Hoffnung Prachtbau“ niedergerissen werde, infolge der politischen Entwicklung, die Resignation aufkommen ließ, wesentlich schwächer geworden. Auch dies zeugt für die hier dargelegte Reihenfolge der Entstehung der beiden Gedichte.
Fontanes „Rußland“ wurde nicht vor August 1844 geschrieben. Da Wolfsohn bereits Anfang Januar 1845 in Moskau eine Hauslehrerstelle antrat und überdies mit Vorträgen über deutsche Literatur (vgl. Fontane- Blätter, Bd. 2, Heft 3, 1970, S. 170, Anm. 19), darunter die „allerjüngste“, mühsamem Gelderwerb nachging, kann vermutet werden, daß das Projekt der Professur schon zum Scheitern verurteilt war, damit aber auch Wolfsohns Absicht, für immer in Moskau zu bleiben, hinfällig wurde. Die Entstehung des Gedichts „Rußland“ fällt u. E. in die Zeit zwischen August 1844 und den ersten Monaten 1845.
— Dr. Christa Schultze —
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