Heft 
(1972) 14
Seite
403
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graphie enthalten aber auch seine Hauptwerke, die kürzeren und längeren Romane: er schrieb sie in den achtziger und neunziger Jahren (damals war er wirklich nicht mehr jung), neunzig und achtzig Jahre vor unserer Zeit.

Der Gregorianische Kalender treibt die Zeit in gleichmäßigem Tempo vorwärts, verläßt man sich aber vollkommen auf ihn, so wird man oft getäuscht. Auch ohne Bergsons Mahnung ahnten wir es schon lange, daß die Zeit trügerische Spiele mit uns treibt, daß sie weithin relativ ist, worin uns die Ergebnisse der Revolution des modernen physikalischen Weltbildes gerade noch bestätigen. Die konstanten Angaben der Literatur­geschichten, die Daten trotzen der beschleunigten Zeit, die perfide Absicht eines spielerischen Geistes könnte höchstens an dieser Ordnung rütteln. Denn es wäre sicher nicht schwer festzustellen, wieviele Generationen Goethe von uns trennen (oder wieviele Generationen zwischen Goethe und Brecht stehen, wobei letzterer obwohl zwar tot unser Zeit­genosse ist). Das Ergebnis würde ohne Zweifel eine beträchtliche Zahl ergeben. Und doch: Als Brecht geboren ist, lebte noch Ulrike von I.evetzow, die junge Geliebte des alten Goethe (der damals schon seinen festen Platz in der Literaturgeschichte einnahm). Es ist merkwürdig: sind die Klassiker also doch nicht so unerreichbar weit von uns? Kaum haben wir die Gelegenheit in unserer Zeit verpaßt, um direkte persönliche Nachrichten über sie zu bekommen? [Oder treibt nur das hohe Alter einiger zäher Damen Spott mit uns?]

Den Tod der populärsten und beliebtesten Heldin Fontanes, der Effi Briest, haben schon so manche Generationen beweint, seitdem (1895) der alte Schriftsteller sie zur Romanflgur gestaltete. Als Schlüsselroman (wer würde es heute glauben?) wurde damals die heute schon klassische Geschichte der Effi gelesen, die auf den unabänderlichen Entschluß ihres Mannes, des Baron von Innstetten, von der Gesellschaft und ihrer Familie ausgestoßen und so zum Opfer der steifen Manieren und der erstarrten preußischen Ordnungswelt wird. Fontane schuf wirklich aus einer Klatschgeschichte ein Meisterwerk, und in dieser Art lebte und lebt auch heute noch der Roman sein eigenes Leben in der Welt der Fiktionen. Fontane selbst wurde unterdessen einhundertdreiundfünfzig Jahre alt, zum hundertfünfzigsten Geburtstag wurde eine Gedenkausstellung durch­geführt, und unter den wertvollen Schriften, Gegenständen und Doku­menten tauchte eine noch nie gesehene Photographie auf. Weit auf­gerissene Augen: im Atelier des einstigen Photographen, unter schweren Vorhängen in einem Plüschfauteuil sitzt eine Frau mit ernstem Gesicht, die Freifrau von Ardenne, die wirkliche Effi Briest. Das Bild gehört einem namhaften Dresdner Naturwissenschaftler, Professor Manfred von Ardenne, dem Enkel der Effi. Fontane verheimlicht es gar nicht: ... daß die wirkliche Effi übrigens noch lebt als ausgezeichnete Pflegerin in einer großen Heilanstalt ... Vielleicht läge sie lieber auf dem Rondell in Hohen Cremmen, wo er sie im Roman begraben und ihr Grab von der ..Kreatur, vom Hund Rollo, bewachen ließ. Der Besucher versucht die Gesichtszüge der Effi auf dem Bild zu erkennen und bemerkt dabei nicht das Datum des Todes: 1952. Es ist keine Augentäuschung, das