Heft 
(1972) 14
Seite
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genaueste Nachrechnen würde auch keinen Fehler entdecken; das Modell der vor 78 Jahren geschriebenen Effi war vor kurzem noch unser Zeit­genosse.

Es ist wirklich keine Täuschung. Als rüttelte der Autor an der Zeit, an den starren Daten, die ihn beengen, und daran ist nichts zu bewun­dern : seine Laufbahn als Romancier paßte auch nicht herkömmlicherweise in den Rahmen seiner Biographie. Dickens war sechsundzwanzig als er Oliver Twist schrieb, Thackeray hatte mit siebenunddreißig den Jahr­markt der Eitelkeiten hinter sich, Fontane war aber sechzig, als er sich erst dem Roman zuwandte und mit der langen Reihe seiner bedeutsamen Werke begann, und als Effi Briest fertiggestellt wurde, fünfundsiebzig, um die anderen, die späteren, unter ihnen den größten und vielleicht besten, den Stechlin, gar nicht zu erwähnen. Der Abkömmling der nach Preußen geflüchteten Hugenotten hatte verhältnismäßig früh, noch während seiner Apothekerpraxis, mit der Literatur Fühlung genommen, übrigens gab er dann den erlernten Beruf auf. Als Feuilletonist, Bal­ladenautor und Autor prächtiger Reisebilder wurde er rasch bekannt. Journalistik lockte ihn auch nach London, wo er als Berichterstatter nicht immer für die progressivsten preußischen Zeitungen schrieb. In literarischen Kreisen war er aber ständig zu Hause, beliebt unter seinen Kollegen, eine Zeitlang sogar Sekretär der Akademie der Künste in Berlin und gibt dieses Amt genau so glücklich auf, wie in Ungarn sein Kollege Janos Arany (fast zu gleicher Zeit, kaum ein Jahr früher). Sein nur zwei Jahre älterer ungarischer Zeitgenosse (übrigens sein Ge­nosse auch im Studium der schottischen Balladen) verfaßte schon den lyrischen ZyklusHerbstzeitlosen [Oszikök], die Blüten seiner späten Lyrik, als sich Fontane dem Roman verschrieb. (Aranys Epik hat übrigens auch Fontane erreicht: er bekam ihm gewidmete deutsche Übersetzungen.) In Berliner Literaturkreisen wurde Fontane dagegen wenig beachtet, als Romancier nahm er noch nicht den ihm gebührenden Platz im litera­rischen Leben ein. Führend in der deutschen Prosa waren Friedrich Spielhagen und Paul Heyse (im Ausland schon vergessene Namen, und nicht ohne Grund). Heyse wurde später sogar Nobelpreisträger. Fontane erhielt nichts! Er war unter ihnen ein Verspäteter, der der Bismarck- schen Reichsgründung mit einer gewissen Skepsis gegenüberstand. Es ist wahr: Fontane war konservativ, aber auf seine Art. In seinem ersten RomanVor dem Sturm beschäftigt er sich mit einem progressiven Abschnitt der deutschen Geschichte, dem Befreiungskampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft. Als im Bismarckreich die Kultur stag­nierte und trügerischer Wohlstand der Bürger die Unfreiheit der arbei­tenden Massen überblendete, wurde Fontane im wachsenden Maße ein Kritiker am Preußentum der Vergangenheit (Schach von Wuthenow) und der Gegenwart (Irrungen. Wirrungen,Effi Briest u. a.), ein Kri­tiker des Bürgertums (Frau Jenny Treibei).

I'ontanes Anschauungen, seine Auffassung von der Kunst konnte vom akademischen Standpunkt der Zeit, von dem falschen Maß einer heuch­lerischen Ordnung nur unzeitgemäß empfunden werden. Kein Wunder, daß die literarische Opposition bald einen Verbündeten in Fontane sah.

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