Denn die späte Laufbahn des gesellschaftskritischen Romanschriftstellers fiel mit dem Beginn einer neuen Stilrichtung zusammen, die sich rigoros dem Akademismus entgegensetzte, mit der des Naturalismus.
Fontane verehrte Zola, schätzte Ibsen hoch ein; das revolutionäre Prachtstück der deutschen Literatur, Gerhart Hauptmanns „Die Weber“, wurde vor. ihm in einer Theaterkritik sogar als „epochemachend“ bezeichnet. Er gehörte aber nicht zu den Naturalisten, zu den Modernen, schon der Generationsunterschiede und der schriftstellerischen Beschaffenheit wegen nicht.
In seinen Großstadtromanen ist Fontane ein Meister des produktiven Distanzhaltens vom Geschehen. Führt ihn aber seine Phantasie hin und wieder auf ein weiteres Feld, so brachte es ihm selten Glück. Sein Roman über den ungarischen Grafen Petöfy beweist es am besten. In seinen Berliner Gesellschaftsromanen schildert der Dichter aus eigener unmittelbarer Erfahrung das Leben in der Hauptstadt des neuen preußisch-deutschen Reiches, die im Begriff war, eine Metropole zu werden. Fontane schildert mit kritischem Blick die „prähistorische“ Ordnungswelt (er selbst bezeichnet sie so) mit ihrer starren Bürokratie, die das Leben im Bismarckreich beherrscht. Fontane läßt bei der Schilderung der einzelnen Typen Milde und Güte walten, ohne seinen resignierenden Humor zu unterdrücken. Fontanes Wärme und Güte für den Menschen besteht auch trotz der Distanz zwischen dem Autor und seinem Gegenstand, es gibt keinen Zorn, was übrig bleibt ist das Menschliche. Fontanes eigentliche Liebe gilt den einfachen Menschen aus dem vierten Stande, vor allem den von der bürgerlichen Gesellschaft gedemütigten und unterdrückten Frauen, als Beispiel für viele gelten uns Lene Nimptsch in ..Irrungen Wirrungen“ und die Witwe Pittelkow in „Stine“, die ihren adeligen Partnern moralisch überlegen sind. Der Dichter spürt
in ihnen das Wahre der Natur und in ihrem zermürbenden Schicksal die Niedertracht einer heuchlerischen Gesellschaft. Seine Proletariergestalten bzw. die Frauen aus dem Kleinbürgertum (Lene und Stine) kann man nicht vergessen, aber ebenso unvergeßlich sind die anderen Opfer des . prähistorischen“ Moral-Idols (z. B. Cecile und Effi, das adlige und von
den Eltern an Innstetten „verkaufte“ Mädchen vom Lande). Die überlebte Welt des preußischen Junkertums war Fontane nicht fremd. Im „vierten Stand“, in den Arbeitern, sah er das Kommende und schrieb 189(1 an James Morris: „Alles Interesse ruht beim vierten Stand. Der Bourgeiois ist furchtbar, und Adel und Klerus sind altbacken, immer dasselbe. Die neue, bessere Welt fängt erst beim vierten Stande an. Zwei Jahre vor seinem Tod schrieb der alte Fontane diese Zeilen nieder. Zwanzig Jahre früher äußerte er sich noch anders. Viel konservativer. Es waren nur wenige, die ihre eigene Welt so genau kannten wie Fontane, und nur wenige analysierten sie so tiefgehend. Obgleich Fontane vielleicht selbst nicht ahnte, wie tief er greift; er plauderte nur so hin und ließ besonders seine Helden plaudern „ohne Gewicht ( er 1 er hält aber den Faden der Erzählung dabei sicher in der Hand). Er war ein „Causeur“, was von ihm nie geleugnet wurde [den Titel Causerien , d.h. Plaudereien, trägt auch eine Sammlung seiner publizistischen
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