irgendeiner Fabel überhaupt feststand. „Vielleicht für den Jetztzeit^ Roman“ steht beispielsweise auf einem Blatt, das die Überschrift trägt „Arme Leute™:
Arme Leute. Mutter und Tochter. Es kommt eine Nachricht ins Haus, der Vater wird ein Amt, eine Stellung, ein kl. Vermögen oder eine kl. Erbschaft erhalten, alles ist noch unsicher, aber es reicht doch aus, die Phantasie beider in Bewegung zu setzen und sie malen sich nun, kleinen Stils, eine Welt von Glück. Sie wollen es vor einander nicht zeigen und brechen ab, schweigen und berühren andre Themata, aber plötzlich heißt es, inmitten andren Gesprächs „und dann auch einen Stehspiegel“ oder dergleichen. So sind sie bereits neueingerichtet. Am andern Tag kommt die Nachricht: es sei nichts. Und sie wiegeln nun, halb lachend, mit derselben Gemüthlichkeit ab.
Obwohl also der Kontext noch nicht feststeht, entfalten sich in dieser genrehaften Skizze die Figuren bereits relativ selbständig. Diese Technik läßt sich nicht nur bei Fontane beobachten, sondern ist charakteristisch für die Arbeitsweise fast aller realistischen Schriftsteller der Zeit 34 . Freytags Empfehlung für junge Novellendichter r> : „Erst nachdem der Zusammenhang der Ereignisse gefunden ist, sollte der Charakter der Helden wie der Nebenpersonen ausgearbeitet werden“, ist letztlich ,graue Theorie“. Nicht mehr die vorgefaßten Ideen, die dann „als ein fremder Gast in die Erscheinung treten 30 , stehen am Anfang der Arbeit an einer Erzählung, sondern die künstlerischen Gestalten. “[...] vom Stücke erfahr’ ich nicht die Fabel, den novellistischen Inhalt zuerst, sondern bald nach vorwärts, bald nach dem Ende zu von der erst gesehenen Situation aus, schießen immer neue plastisch-mimische Gestalten und Gruppen an. bis ich das ganze Stück in allen seinen Scenen habe“, schreibt Otto Ludwig zum eigenen Schaffen 37 . Das trifft noch weit mehr für Fontanes Arbeitsweise zu, zumal bei ihm die Fabel mit zunehmender Produktivität immer nebensächlicher wird. „[...] den Ideen Hosen an- ziehen, ist eine Kunst, die, weil sie fast gleichbedeutend ist mit ,Das Haus vom Dach aus bauen wollen 1 , immer nur sehr wenigen geglückt ist und immer nur da, wo's auf die Idee und nicht auf die Verkörperung ankam“, meint er 30 und konstatiert: „Als Regel gilt: erst war der Erdenkloß da. und dann kam Gott und blies ihm den lebendigen Odem ein.“
2. Historische Vorbilder
Fontane gestaltete die Wesenszüge seiner Romangeschöpfe (Hauptgestalten wie Nebenfiguren) nach den verschiedensten Vorbildern. Als Modell dienten ihm Personen aus seiner Familie, seiner Verwandtschaft, seinem Freundes- und Bekanntenkreis, ferner Menschen, denen er auf seinen zahlreichen Wanderungen durch die Mark, auf der Landstraße, in der Postkutsche, im Dorfkrug, in der Pfarre, im Herrenhaus begegnet war 39 , und nicht zuletzt Gestalten, die ihm aus seinen Kinderjahren in Erinnerung geblieben waren. Darüber hinaus benutzte er die verschiedensten Quellen' 1 " So bewahrte er eine Zeitungsnotiz über den Charakter des chinesischen Rebellenführers Han-Pien-Wai auf und vermerkte darauf mit Blaustift 41 : „Zur Charakterisierung Störtebeckers und seiner Popu-
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