Stellers in Deutschland“ (vor März 1888) kommt dieser Gedanke erneut zum Ausdruck 82 : „[...] wem es obliegt, die Welt darzustellen, der muß drüber stehen, wenn er diese Welt darstellen will. Wer einen auf den Hochstelzen des Bürokratismus umherstolzierenden Geheimrat, einen Minister, einen Gymnasialdirektor alten Stils, einen Landbaron, einen Kürassierrittmeister in all ihren Eigentümlichkeiten, in ihren guten und schlechten Seiten, in aller Wahrheit und Lebendigkeit darzustellen versteht, der kann dies nur, nachdem er sie sich zuvor zu eigen gemacht, d. h. sie geistig sich unterworfen hat.“ Erst durch seine chamäleonhafte Fähigkeit kann also der Erzähler — nach der Auffassung Fontanes und seiner Zeitgenossen —, seine Gestalten sich so gebärden und handeln lassen, wie es ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen und bildungsmäßigen Stellung auch im wirklichen Leben entspräche. Die durch Verschiedenheit der Sprache und des Handelns bedingten individuellen Unterschiede der Romanflguren sind somit nicht Ergebnis erzählerischer Willkür, sondern Ausdruck dichterischer Gestaltungsintention. Diese erfordert intensives Eindringen in die darzustellende Romanwelt, Sich- Einleben in die Atmosphäre des jeweiligen Ortes, Sich-Versenken in das Wesen jeder einzelnen Figur.
3. Verarbeitung des Figurenmaterials Der nächste Schritt besteht darin, daß Fontane die einzelnen Kapitel „wie mit einem Psychographen (die grenzenlose Tüftelei kommt erst nachher)“ 83 stichwortartig niederschreibt und den fertig entworfenen Vorder- und Mittelfiguren ihre Plätze, ihre Aufgaben zuweist. Hierzu zwei Beispiele aus Entwürfen für ,Vor dem Sturm“.
Entwurf zum ,Lehnin‘-Kapitel M :
Lehnin.
1. Und der Dienstag kam. [nachträglich eingefügter Satz:] Schnee war gefallen; frische Bahn und nun helle klare Luft. Die betr. Paare, namentlich die Mazurka-Paare; Schoeneberg; am schwarzen Adler. Die Schlitten beschreiben; der größere Schlitten: Lewin, Bummcke, v. Hirschfeld.
2. Die Plaine; die bereiften Bäume, die Sternchen, die Kätzchen, die Dolden, die Quirlchen, Stimming 85 . Kleist’s Stelle. Kohlhasenbrück. Nowawes. Heiligengeist-Kirche.
3. Umspannung. Relais. Husaren-Stücke am Brandenburger Thore. Die Plaine. Die Kuppeln der Communs. Dorf Eiche. Die Havelbrücke. Werder. Groß-Kreuz. An der Krippe gefüttert; einzelne Paare gewechselt. Neckerei zwischen Lewin u. Kathinka.
Skizze zum Kapitel .Die Rekognoszierungsfahrt“ 81 ':
Die Fahrt nach Frankfurt macht
Bemdt, Bamme, Hirschfeldt und Grell. Lewin und Tubal bleiben zurück.
Drosselstein, der am Tag vorher bei Tschemitscheff war, bleibt auch zurück.
Grell sieht sich die beiden Denkmäler an; die Geschütze stehen vertheilt bei beiden.
Das Leopoldsche liest er an Ort und Stelle; das Kleistsche notirt er blos und liest es am Abend [aus: Abends] LeWin vor. Mit diesem
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