Die Beispiele haben gezeigt, daß Fontanes Konzeption der Nebemlguren nicht — wie beim Ereignisnovellisten — vom Geschehen ausgeht !H ; seine Sekundärgestalten gewinnen ihr Leben unabhängig von der konkreten ,Geschichte*. Sie sind dem wirklichen Leben nachgebildet und als quasi selbständige Mitspieler bis in die kleinsten Züge des Alltagslebens hinein durchorganisiert, noch bevor sie in unmittelbare Beziehung zum Geschehensverlauf treten.
Der im allgemeinen nur knapp und unbestimmt gehaltenen Charakterzeichnung der Hauptgestalten steht die scharfe und ausführliche Konturierung der Nebenfiguren gegenüber. Diese sind es eigentlich, deren Gestalt und Wesen nachhaltig im Bewußtsein des Lesers haften bleibt, während die Erinnerung an jene oft recht verschwommen ist.
Fontanes Nebenfiguren sind bei aller Individualität auch typische Gestalten, eben weil das Wesen solcher Gestalten auch in der Wirklichkeit viele typische Züge enthält. Zuweilen gelang ihm die Darstellung solcher Figuren so gut, daß — wie er zum historischen Hintergrund in .L’Adultera* bemerkt”"' — „auch in Bezug auf die Nebenpersonen alles in geradezu lächerlicher Weise zutraf, obschon ich aus der Klientel des Hauses auch nicht einen Menschen gekannt habe. Aber das erklärt sich wohl so, daß man bei Kenntnis des Allgemeinzustandes auch das Einzelne mit Notwendigkeit treffen muß.“
Fontanes Arbeitsweise, alle Nebencharaktere mit gleicher Schärfe zu zeichnen, einige mit nur wenigen Strichen zu skizzieren, andere aber breiter auszuführen, hat zur Folge, daß Nebenfiguren nicht mehr ausschließlich im Kielwasser ihnen übergeordneter Gestalten schwimmen; sie wirken relativ selbständig. Vor allem diejenigen Sekundärflguren, deren Schicksale mit denjenigen der .Helden* nicht unmittelbar verknüpft sind, treten stärker hervor; sie besitzen einen großen Eigenwert. In der stärkeren Inszenierung dieser selbständigen Nebenfiguren liegt zugleich die Wurzel für ein Überwuchern der Nebenhandlungen, wie man es in Fontanes ersten Erzählwerken beobachten kann.
Die Methode, einzelne Nebencharaktere breit auszuführen, noch bevor überhaupt feststeht, in welchem Roman sie Verwendung finden könnten, bringt eine Gefahr mit sich, auf die Fontane in einer Nachbemerkung zur ,,Ohngefähre[n] Eintheilung'* des .Allerlei Glück‘-Planes hinweist””: „Eine Hauptschwierigkeit ist die Einrangirung des Schlossermeisters und Büchsenschmidt.“ An anderer Stelle hatte er sich ermahnt”*: „Ich darf von sogenannten .Originalen* nicht zu viel bringen, und muß mich namentlich hüten, durch zu viele kleine Eigenheiten wie Citate, Redensarten, Berolismen, fremdländische Ausdrücke usw. wirken zu wollen. Das wirkt schließlich bloß gesucht und überladen.“ In zunehmendem Maße versucht er daher diese .Eigenheiten* sparsamer zu verwenden und sublimer zu gestalten.
Das Typische der Nebenfiguren ermöglicht auch ihre vielseitige Verwendbarkeit, ihre Wanderfreiheit innerhalb der verschiedenen Erzählwerke. Man hat das umfangreiche .Allerlei Glück*-Fragment als „Ruine“, als „Steinbruch“ bezeichnet, aus dem Bausteine zu neuen Werken gewonnen worden sind, und festgestellt, daß Fontane in fast jeder
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