die jenseits des Kanals inne wurden, daß Staatsmaschinen (wie alle übrigen) um so besser sind, je einfacher sie sind; mag man die Bajonette verwünschen, die den harmlosen Reisenden noch immer vom Perron entgegenblitzen, dennoch erfüllt uns der feste Glaube, daß wir, und nur wir, die Keime eines freien Volks in uns tragen, weil wir die einzig Durchbildeten und mehr als das, die einzig Gerechten sind. Was man so verächtlich unsere kosmopolitische Natur genannt hat, das ist unsere Tugend und unsere Weltaufgabe. Falscher Kosmopolitismus mag Verbrechen, mag Selbstmord sein, der echte liebt das Nationale, aber er verklärt es; er bekämpft nicht die Nationalität, sondern nur ihre Borniertheit. Und uns, die wir drauf und dran sind, die großen Ideen von Freiheit und Gleichheit ihrer einzig denkbaren Verwirklichung entgegenzuführen, uns bietet diese Kreuzzeitungspartei die ständische Monarchie als den Schlüssel alles Glücks und als den Blitzableiter der Revolution; uns richtet man diesen Geßlerhut auf und fordert „Reverenz“, während doch selbst die Armee, um deren Gunst man buhlt, gleich jenem Leuthold sagt: „Es ist ein Popanz“. Die Kreuzzeitung ist eine Macht wie die Vorlesung eines junghegelschen Professors: beide möchten die Weltgeschichte führen, aber die Weltgeschichte ist kein blindgewordener Beiisar und sie führt selbst. Sie geht ihren großen Gang, wie sie ihn immer ging, und wenn sie Herz und Hand bedarf, um ihren Willen ins Werk zu setzen, so pocht sie nimmer an die Bürotür in der Dessauerstraße. Man würde sie doch nicht einlassen. Die Kreuzzeitungspartei ist nur reich an Selbstsucht, aber sie ist arm an Begeisterung und, wer dächte es, selbst an Berechnung. Ihre Siege haben sie übermütig gemacht und ihr den klaren Überblick über das genommen, was sie kann und was nicht. Sie hat keine Wurzeln geschlagen in den Herzen des Volks und steht ununterstützt und sympathielos den Bestrebungen des übrigen Europa, der Völker wie der Fürsten, gegenüber. Die Kaiserschaft Ludwig Napoleons, die immer mehr platzgreifende Zentralisation Österreichs, die aus den faktischen Kräften des Landes sich stets neugebärdende Aristokratie Englands sind alle das völlige Gegenteil einer ständischen Monarchie. Mag man liebäugeln mit Rußland und von ihm den Mörtel erwarten, um (so meint man) das zerbröckelnde Europa neu zusammenzukitten; mag man glauben, daß die Sonne künftigen Heils, wie die Sonne selbst, von Osten kommen werde, in einem ist die Rechnung falsch: die ständische Herrlichkeit kommt nicht von dort; knirschend, aber gebrochen liegt der russische Adel zu den Füßen der Romanow. Wir bezweifeln es, daß die Nesselrode kommender Jahrzehnte um des Wohlbefindens der Kreise Belgard-Schiefel- bein willen sich veranlaßt fühlen könnten, ein Privatissimum bei Professor Stahl zu hören und sind der Meinung, daß dem wohlbewährten Gange russischer Politik nach wie vor das Testament Peters des Großen, nicht aber die Rundschau des Herrn von Gerlach als Wegweiser dienen wird.
Heft
(1972) 15
Seite
460
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