Da ist es schon wichtig, in welche literarische Gesellschaft wir beim Lesen geraten und welcher Art die Standorte sind, die durch das Buch auf ein breites Publikum übertragen werden.
„Denn der Mensch muß etwas Festes haben, woran er sich halten kann“, — so lesen wir in der Erbe-Rezeption bei Humboldt; „etwas Festes, das ihm ein Maß und ein Ziel ist; sonst hat er für sein eigenes Dasein keinen Begriff, und das Dasein hat keine Art des Wertes für ihn selbst“.
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Nunmehr sind es fast zwanzig Jahre, daß ich mit dem Buch in der Mappe kreuz und quer durch den Bezirk Gera reise: von den Clubs der Kulturschaffenden unserer Kreisstädte über die literarischen Freundeskreise in den Großbetreieben und Wohnbezirken, in den ländlichen Gemeinden und Dorfclubs bis hin zu unseren Berufs- und Oberschulen sowie den Seminaren der Betriebsakademien und jenen des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands.
Heute steht solch ein literarischer Freundeskreis ganz und gar im Mittelpunkt der Entfaltung des neuen Menschen. Ihn als tragenden Weltanschauungskreis zum Herz- und Kernstück der modernen sozialistischen Gesellschaft zu entwickeln, ist ein wesentliches Anliegen unserer Kultur- und Bildungspläne.
Um es poetisch auszudrücken: das aktuelle literarische Gespräch, — unendlich vielfältig in seinen Möglichkeiten wie der sozialistische Alltag selbst, — es muß zur „Sternstunde“ des neuen Menschen werden, deren jeder von uns, Marxist oder Nichtmarxist, auf besondere Weise bedarf, um in der ganzen Differenziertheit des Alltags unserer neuen Epoche den wissenden Glauben an die Fähigkeiten und Möglichkeiten des Menschen zu vertiefen, zu beleben, ihn immer wieder aufs Neue zu fundieren. „Denn Dichtung ist kein Ausnahmezustand, sondern etwas dem Menschen Gemäßes“ lesen wir bei Joh. R. Becher. „Und in jedem Menschen ist eine Sehnsucht, ein Heimweh nach dem Poetischen, wie nach einem Anderssein. Wenn wir dem Poetischen wieder Zugang verschaffen bei den Menschen, so entwickeln wir in ihnen eine gewaltige menschliche Kraft...“ Diese menschliche Kraft freizulegen auf breitester Ebene, von der Klassik bis zur Gegenwart: darauf kommt es uns im besonderen an.
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Das „große Fontane-Jahr 1969“ stellte uns daher nicht nur vor die Aufgabe einer umfassenderen Fontane-Interpretation als je zuvor; es brachte uns auch als besondere Festgabe Hans-Heinrich Reuters zweibändige Fontane-Biographie im Verlag der Nation: ein Geschenk von profunder Sachkenntnis und jener Vitalität des Geistes, wie sie nur dann in Erscheinung treten kann, wenn Biograph und Dichter zu einer untrennbaren Einheit miteinander verschmelzen; wenn für den Leser „nachvollziehbar“ gestaltet wird, was hier an Subtilstem über Werk und Mensch innerhalb einer solch spannungsgeladenen Epoche wie der preußischdeutschen von 1870/71 in neuer Sicht und Wertung ausgesagt wurde. Um es gleich vorweg zu nehmen: das „große Fontane-Jahr“ blieb nicht auf das Jahr 1969 beschränkt. Noch immer wird Fontane wieder und