Heft 
(1972) 15
Seite
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hunderte mit. Und weil sie da sind, diese nervösen Frauen, zu Hunder­ten und Tausenden unter uns leben, so haben sie sich, einfach durch ihre Existenz, auch Bühnenrecht erworben. Oder will man ihnen gegen­über von .Krankheit' sprechen? Was heißt krank? Wer ist gesund? Und wenn krank, nun so bin ich eventuell fürs Kranke... Ich lebe mit Kranken wie Ellida (namentlich wenn sie wie Fräulein Clara Meyer aussehen) lieber als mit der Mehrzahl der Gesunden, die mir in meinem Leben vorgestellt wurden. 7

Als Ibsen in Berlin so recht bekannt wurde (1887), war Fontane schon beinahe 70 Jahre alt. Umso erstaunlicher ist es, wie der alte Dichter stets für die neue dramatische Literatur eintritt, die durch die Gründung der Freien Bühne auch ihr eigenes Forum bekommen hatte.

Ibsen hatte 1887 eine Einladung nach Berlin angenommen, wo ihm zu Ehren im Residenztheater eineprivate Aufführung derGespenster gegeben wurde, nachdem die Polizei jede öffentliche Wiedergabe des Stücks aus Gründen der Sittlichkeit untersagt hatte. Ibsen selbst schreibt über diesen Besuch begeistert an Julius Hoffory, der zu dieser Zeit Professor für skandinavische Literatur in Berlin war:Meinen Besuch in Berlin und alles, was damit in Verbindung steht, betrachte ich als ein wahres und großes Glück für mich. Er hat auf meinen Geist wunder­bar erfrischend und verjüngend gewirkt und wird auch ganz sicher seine Spuren in meiner zukünftigen Dichtung hinterlassen. 8 Mit der Auffühmg derGespenster anläßlich dieses Besuchs beginnt die eigentliche Konfrontation des Theaterkritikers Fontane mit Ibsens Werk. Die Aufführung war zunächst von dem Ibsen-Protagonisten Paul Schlenther 9 in der Vossischen Zeitung vom 10. 1. 1887 uneingeschränkt begrüßt worden. 10 In einem Anhang distanzierte sich jedoch die Redak­tion von Schlenthers Darstellung mit Argumenten, die den überkomme­nen dramatischen Vorstellungen einer konservativ-bürgerlichen Mehrheit entsprachen:Ein Kunstwerk soll uns Genuß, Freude, Erhebung bereiten, nicht Entsetzen, Qual und, was noch schlimmer ist, hoffnungslose Ver­zweiflung auch dann nicht, wenn, was wir dem Ibsenschen Stück bestreiten, die Handlung auf Wahrheit beruht. 11 Ibsen hatte diese Reaktion genau vorausgesehen, wie man einem Brief vom 5. 1. 1887 an seinen Verleger Frederik Hegel entnehmen kann:Die .Gespenster' sind ein brennendes und dramatisches Problem in Deutschland geworden. In Berlin rechne ich mit mancherlei Widerstand bei der konservativen Presse. 12

Einen Tag vor dieser Auseinandersetzung in der Vossischen Zeitung, also am 9. 1. 1887, hatte Fontane bereits an Schlenther geschrieben, sich für dengroßen Genuß der Ibsenaufführung bedankt und ihn gebeten, ob er, Fontane, nicht einige Tage später eine zweite Besprechung folgen lassen könne:Mich selber drängt es ebenfalls, etwas über dies merk­würdige Stück zu sagen ... Von einem Widerstreit der Meinungen kann dabei gar keine Rede sein. Ich bin selbst so sehr die helle Bewunderung, daß ich mit meiner Altherrnweisheit weder Ihnen noch Ibsen sonderlich ins Gehege kommen würde. Nur den in den .Gespenstern' umgehenden gesellschaftlich-reformatorischen Schemen der Sittlichkeitsprätension

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