oder, wenn diese (was möglich ist) fehlen sollte, dem anspruchsvoll und unberechtigt zutage tretenden Pessimismus einer trotz scheinbarer Zu- treffendheit doch verschrobenen Weltanschauung würde ich entgegentreten. Die Bewunderung für die dichterische Arbeit bleibt: Abweichung nur im Letzten und Innersten.“ 13 Die Redaktion der Vossischen Zeitung war natürlich gerne bereit, Fontane, der wegen seines abgewogenen Urteils vom Leserpublikum geschätzt wurde und auch bei den Fachleuten Achtung genoß, zu Wort kommen zu lassen, zumal sie vermutlich eine Bestätigung ihrer eigenen Ansichten erwartete. Fontane stellte sich jedoch überraschenderweise voll hinter Schlenther: „P. S. [= Paul Schlenther] ist dem eminenten Talente des Dichters, die Redaktion der im Publikum vorherrschenden Anschauung gerecht geworden, und so hat es in der Tat sein Mißliches (weil Anspruchsvolles) nachträglich noch als dritter in diesen Meinungsstreit einzutreten. Die hervorragende Bedeutung Ibsens und seines Werkes aber, über welch letzteres ein Wort Zusagen es jeden Mann vom Fach drängen muß, läßt mich auf Indemnität bei den Lesern der Zeitung rechnen.“ 14 Ibsen habe in diesem Stück zwei Thesen über die Ehe „an seine neue Wittenberger Schloßkirche geschlagen“, die er, Fontane, für falsch halte, obwohl er Ibsens „Kunst und Technik... rückhaltlos bewundere“. Diese Thesen — Heirat nach Neigung oder, bei Geldheirat, Wiedergutmachung des „Fauxpas“ — diskutiert Fontane vor seinem Publikum mit der ihm eigenen Wärme und Anteilnahme, wobei er nicht „moralisch“ argumentiert, sondern wie immer das „Menschliche“ und den „Blick aufs Ganze“ betont: „All das, womit wir in diesen ,Gespenstern“ geängstigt und zum Wechsel unserer sittlichen Anschauungen gedrängt werden wollen, ist uralten Datums... Alles ruht in einer ewigen, immer neue Lebensströme spendenden Erhaltungshand, der es ein leichtes ist, die Sünden eines norwegischen Kammerherrn und noch vieler anderen Kammerherrn aus ihrer Kraft- und Gnadenfülle wieder wettzumachen... Die größte aller Revolutionen würde es sein, wenn die Welt, wie Ibsens Evangelium es predigt, übereinkäme, an Stelle der alten, nur scheinbar prosaischen Ordnungsmächte die freie Herzensbestimmung zu setzen. Das wäre der Anfang vom Ende. Denn so groß und stark das menschliche Herz ist, eins ist noch größer: seine Gebrechlichkeit und wetterwendische Schwäche.“ 15 Fontane ist also gegen die Revolution des gesellschaftsbezogenen Inhalts, wie in all seinen Äußerungen zum Thema Ibsen deutlich wird; aber er tritt unablässig für die Revolution der künstlerischen Form, d. h. für die Modernisierung des Dramas ein, wobei sich der ambivalente Ton seiner Äußerungen von 1887 bis 1898 nie ändert. Ablehnung und Zustimmung halten sich quantitativ wie qualitativ die Waage. Selbst Widersprüche sind, vor allem in den Briefen, nicht allzu selten. In einem Brief vom 22. 3. 1898 an Friedrich Stephany, den Chefredakteur der Vossischen Zeitung - die negativste Äußerung über Ibsen - wendet sich Fontane gegen den „unheimlichen Ibsenkultus“; er zieht Hauptmann vor, weil er „menschlicher, natürlicher, wahrer ist. Da quatscht jetzt jeder von Ibsens Wahrheit, aber gerade die spreche ich ihm ab ... In der Mehrzahl seiner Dramen ist alles unwahr. Die bewunderte Nora ist die größte Quatsch-
Heft
(1972) 15
Seite
509
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