Heft 
(1972) 15
Seite
511
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Diese Lobeshymne auf Hauptmann und die damit verbundene Kritik an Ibsen findet sich in einer Rezension der Uraufführung von Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, ein Werk, das Ibsen in jeder Hinsicht tief ver­pflichtet ist und ohne die Vorbilder inGespenster und derWildente kaum denkbar gewesen wäre. 22 Diese Uraufführung fand am 20. Oktober 1889 in der Freien Bühne statt und rief in Berlin einen Theaterskandal hervor, der denjenigen bei der Aufführung von IbsensGespenster zwei Jahre zuvor im Residenztheater bei weitem übertraf. Da die Freie Bühne jedoch gleichsam Vereinsstatut besaß, konnte die Polizei nicht eingreifen, und es war aus dem gleichen Grund auch zuvor schon juristisch möglich gewesen, IbsensGespenster trotz Polizeiverbots immer wieder aufzuführen. 23 Fontane hat daher dieses Werk nach der bereits erwähnten Aufführung des Jahres 1887 im Residenztheater noch ein zweites Mal rezensiert, und zwar in einer Wiedergabe der Freien Bühne vom 29. 9. 1889, nur drei Wochen vor der Uraufführung von HauptmannsVor Sonnenaufgang. Hier äußert sich Fontane nach einer positiven Kritik über Schauspieler und Regisseur noch einmal grundsätz­lich über das Ibsensche Stück. Mit sanfter Ironie zweifelt er an der damals durch Darwin recht modernen und modischen Vererbungs­lehre, da die Menschen ja sonstan .Versumpfung* längst zugrunde gegangen wären. Die tiefe Wirkung des Stücks führt Fontane aufIbsens Glauben undden künstlerischenn Emst seines Schaffens zurück, wobei eben dieMacht der Überzeugung und nicht die der Wahrheit den wesentlichen Wert dieses Werkes ausmachten. Fontane stellt diese neue Dramatik mit theatergeschichtlichem Spürsinn dem altenAuf­führungspomp der Klassikerinszenierungen entgegen, wo mandas Seitenstück zu den leeren Kirchen sehen könne. Der neue Weg der dramatischen Kunst werde schließlichnach mancher Irrfahrt auch noch das Schöne finden. Hier verfällt dann Fontane plötzlich in die alten ästhetischen Kategorien von der Schönheitsverpflichtung des Kunstwerks: Daß es an dieser Schönheit den Ibsenschen .Gespenstern* noch gebricht, ist zuzugestehn, aber dies Fehlende nimmt nicht Formen an, die das Verbot der Aufführung wies, soviel ich weiß, für Berlin existiert zur Pflicht machen können. 24 Auch hier treffen wir wieder auf eine Ambivalenz, allerdings anderer Art: dem Schönheitsanspruch, der ja konservativ ist und der Fontane mit der vorherrschenden Ästhetik ver­bindet, tritt der Anspruch auf die Freiheit der Kunst und die Ab­schaffung der Zensur entgegen. Das ist allerdings, wie man aus vielen Äußerungen Fontanes entnehmen kann, kein revolutionäres Programm, sondern ein Hinweis auf die Notwendigkeit einer Evolution im Verhält­nis von Gesellschaft und Kunst. Von daher ist es auch verständlich, daß Fontane Ibsens Realismus so sehr schätzt, seine Rhetorik hingegen gänzlich ablehnt. Auch hier sieht er wohl den Dualismus von Altem und Neuem, wobei er nur den Realismus als das Neue begrüßen kann. Einen besonders tiefen Eindruck hatte daher auf ihn der Realismus in derWildente gemacht. In der Besprechung einer Aufführung des Residenztheaters vom 21. 10. 1888 zieht er das Werk denGespenstern noch vor, sieht aber auch die Gemeinsamkeiten der beiden Dramen,