Heft 
(1972) 15
Seite
513
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aber sicherlich den, der sie schreibt, weil er in ihnen Gelegenheit findet, sich an die schwierigsten Fragen heran zu machen, nicht um sie zu lösen, aber doch um sie zu stellen. Und schon in dieser bloßen Fragestellung, die gleichbedeutend ist mit einem Absagebrief gegen das Alte, liegt eine Art Genuß. 20

DieserGenuß ist sogar in zweifacher Hinsicht vorhanden, nämlich in der Beschreibung des Objekts Ibsen und der damit verbundenen Diskus­sion der Dialektik von Altem und Neuem (Absagebrief an das Alte), ein Thema, das Fontane vielleicht am meisten von allen interessiert und für das Ibsen nur ein Symptom, ein Muster gleichsam ist, zum anderen aber ein Vergnügen, das in der bewußten Tätigkeit der intellektuellen Sprachformung liegt; und diese Aufsätze gehören, was Beherrschung der Zwischentöne, Gleiten der Ebenen und intelligente Diktion, ja was Sprachformung überhaupt betrifft, ganz sicher zu den besten deutschen Prosaleistungen. Der Essay ist hier eindeutig Literatur geworden. Der Wert der Kritiken ist demnach auch für den Leser ein zweifacher: das Interesse darf Form und Inhalt der Rezensionen gleichermaßen gelten. Von welchen Kritiken kann man das schon oft sagen?

Aber auch die Briefe sind durch die Qualität von Inhalt und Form und durch ihre öffentlichkeitsbezogenen Aussagen keineswegs mehr etwas nur Privates. In der Kraßheit der heterogenen Kritik an Ibsen (Ablehnung unter Bewunderung!) übertreffen sie allerdings teilweise bei weitem die Theaterrezensionen. Als Beispiel diene ein Brief an Otto Brahm, Mitbegründer und Regisseur der Freien Bühne, vom 14. 1. 1895 über das ThemaKlein-Eyolf:Zunächst nochmals schönsten Dank für den Klein Eyolf-Abend. Es hat mich doch alles oder fast alles aufs höchste interessiert. Das Heraufziehen und Einschlagen der Schicksalsmächte (Schluß des ersten Aktes) ist von mächtiger Wirkung, und der ganze zweite Akt gibt sich ohne Abzug großartig, zählt zu den Großtaten aller Literatur überhaupt. Akt 3 fällt ab und ist beinah langweilig. Der Asta Aus- und Abgang streift das Ridiküle, und auch der Dialog zwischen Rita und Allmers ist mir zu ibsensch-doktrinär. Trotzdem bleibt das Ganze eine kolossale Leistung und überwindet bis zu einem gewissen Grade sogar meine Bedenken, die sich gegen das Fundament des Ganzen richten. Dies Fundament ist der Charakter Ritas ... Er ist im Maß ver­griffen. Natürlich. Wer rechnet, ist immer in Gefahr, sich zu verrechnen. Die einfache dumme Kuh trifft immer das richtige Gras. 27 Die Ironie und der Humor des letzten Satzes sind nahezu unübertrefflich. Man muß schon andere zeitgenössische Urteile über das Stück vergleichen, um zu ermessen, wie nahe Fontane an den Kern des Ganzen kommt. Der dritte Akt des Werkes gilt natürlich auch heute noch als eine schwächere Leistung, 28 das Stück selbst aber als eines der geheimnisvollsten, das ungemein schwierig aufzuschlüsseln ist, vor allem was die Objektivie­rung des Mythischen in der Gestalt derRattenmamsell betrifft. Gegen­über Fontanes Verständnis wirkt Georg Brandes (der ja immerhin auch zu den ganz Großen in der Geschichte der Literaturkritik gehört) Interpretation des Werks alsdas Verhältnis von Eltern zu einem Kind 29 vergleichsweise naiv. Ibsen selbst hat in einem Interview mit