Die unvergleichliche „stereoskopische Plastizität“ 78 , in der uns auch die Fontane-Gestalt „Lau“ gegenübersteht, beruht in zweierlei Sicht ihres Autors: der des Knaben und zugleich der des Altersweisen Fontane.
August Lau fragt seine Zöglinge nach ihren Spielen, nach Drachensteigenlassen, nach Schlittschuhlaufen und Schwimmen. Mit Goethes Suleika-Gedichten spricht er wiederum über ihre Köpfe hinweg. 79
Diese seinen Jahren zukommende Alters-Amplitude zwischen „Versäumnis“ und „Übereilung“ 80 , dazu alle „Hauslehrerklugheit“ 01 , lassen Dr. Lau nicht der ihn in Wittstock erwartenden Bewährungs-Situation „öffentliche Schule“ gewachsen sein. „Die (öffentliche) Schule und die Wildnis sind die einzigen Orte, wo der Mensch an sich was gilt...“ 82
Bei F. D. Schleiermacher heißt es: „Die Tätigkeit der ... (Hauslehrer) bildet einen Gegensatz zu der ... (der Schullehrer).“ 83 Der Wittstocker Magistrat gesteht 1846 zu, „daß sich ... nur selten ein Theolog findet, der zugleich ein tüchtiger Schulmann ist“. 84
Lau’s persönliche Komponenten: spezifische Konstitution, Feinfühligkeit, Umfang und gewissenhafte Befolgung der Interessen und Studien — alles dies gelangt in der Wittstocker Umwelt nicht zu Einklang.
Das Wechselspiel zwischen Lau und seiner Umgebung vollzieht sich inmitten korrespondierender Kontraste seiner Zeit. Von der „1813er Epoche“ bis „Ende der 30er Jahre“ rechnet Fontane eine Zeit schrecklicher „Ruppigkeit“ einerseits und zugleich „höhere(r) Idealität der Gemüter“ mit „Tausende (n) von höchst erfreulichen Einzelerscheinungen, ... die derart kaum noch Vorkommen“, auf der anderen Seite. 85 Vielleicht zollt Dr. Lau, eigenem Wert nicht voll vertrauend, dem Pflichtideal der „gemütlich philiströse(n) Epoche unter Friedrich Wilhelm III.“ 86 , des Biedermeier, zu sehr Tribut und gelangt so auch daher nicht zu individueller Kräftelenkung im Spiel des Lebens.
Sollen wir den durch Fontane unserem Lau eröffneten Kredit preisgeben? In Wittstock wird — wie sind betroffen — Lau’schem Wesen und Wirken von mannigfach orientierten Menschen die Anerkennung versagt. „Manche liebten ihn als einen feinen, klugen und eigenartigen Menschen und waren dann entsetzt und enttäuscht, wenn sie plötzlich den ,Wolf‘ in ihm entdecken mußten“. 87
Dr. Lau, dessen Wohnungsfenster mehrmals eingeworfen wurden, erwirkt öffentliche Auspeitschung der jungen Täter — sollen wir wie Hermann Hesse neben „Wolf“ das stärkere Synonym „Bestie“ verwenden ? 87a
Wir hören Äußerungen des Verstehens und Wohlwollens. Es sei die Frage gewagt, ob uns aus dem Medium der Akten je einmal das Zeugnis eines dem Fontaneschen Lau Ebenbürtigen zu Gesichte kommt. Dürfen wir die Vereinzelung Lau’s auf dessen menschliche und politische Eigenwüchsigkeit, auf die Rangdifferenz gegenüber der durch konventionelles, preußisches Schulwesen geprägten Umgebung zurückführen? Lau’s Behutsamkeit, seine „Gabe des Aufmerkens mit dem Herzen“ 88
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