Alfred Dreifuß (Berlin)
Fontane und der Seiltänzer
„Und nun erzählte Hradscheck dps breiteren, daß der, dem die Truppe jetzt gehöre, des alten Kolter Schwiegersohn sei, ja, die Frau nenne sich noch immer nach dem Vater und habe den Namen ihres Mannes gar nicht angenommen.“
So zu lesen in „Unterm Birnbaum“, erschienen 1885.
Wer war dieser alte Kolter, wer war der Schwiegersohn? Waren diese beiden Figuren Phantasieprodukte des Dichters oder existierten diese? Sie existierten, eine zahlreiche, heute noch lebende Nachkommenschaft zeugt davon.
Man muß in die Stadt Ernst Barlachs, nach Güstrow reisen und in der Straße „Zu den Wiesen“ das „Haus Malmström“ aufsuchen. Ein im Eingangs-Korridor angebrachtes Ölbild zeigt einen Artistenplanwagen mit schnaubenden Rössern durch die Lande ziehend und den Vermerk, daß die Malmströms seit dem Jahre 1725 dieses Gewerbe ausführen. Einige etwas holperige Verse zu diesem Bild seien zitiert: „Unser Urahn zog als Gaukler durchs Land / der Großvater auf hohem Turmseil stand, der Vater durchzog mit dem Zirkuszelt ganz Deutschland und die halbe Welt / das Gauklerblut übernahm vom Vater der Sohn nun schon in der fünften Generation . •.“ Es dürfte heute schon die sechste, wenn nicht gar die siebente sein, ln einem kleinen, zum Hause gehörenden Gärtchen steht ein alter ausgedienter Artistenwohnwagen. Dort trifft man Herbert Malmström an, bis vor einigen Jahren Seniorchef der Truppe. Umgeben von Zirkusplakaten, Regalen voller Programme und Zetteln, Fotos und sonstigen Bildmaterialien. Und in einer Schublade ruht das Kolter-Album. Es erschien 1865 in Reichenbach, nennt einen J. G. Koch als Drucker und zu lesen ist ferner, daß es im Selbstverlag des nicht genannten Verfassers erschienen ist.
Wer nun der Autor des Werkchens ist, bleibt umstritten. Es wird Karl von Holtei zugeschrieben, der in seinem Roman „Vagabunden“ (Breslau 1860) an etlichen Stellen eine Truppe, wie die Koltersche, wenn auch unter anderen Namen beschreibt. Doch das sind Vermutungen. Für uns ist jedoch die Vorsatzseite wichtig, auf welcher das Personal benannt wird. Hier erfahren wir, wer „des alten Kolter Schwiegersohn“ war.
Niemand anders als der Großvater von Herbert Malmström, der von den fünf Kolter-Töchtern genau die fünfte, Louise benannt, geheiratet hatte. Was nun Fontanes Bemerkung „die Frau desselben nenne sich noch immer nach dem Vater und habe den Namen ihres Mannes gar nicht angenommen“, anbelangt, läßt die Vermutung auf kommen, daß unser Dichter wohl ein Artisten- und Zirkusfreund gewesen sein muß, denn vorhandene Programme, die Fontane sicher vor Augen kamen, weisen nachstehenden Titel aus: „1. Schwedischer Circus Kolter-Malm- ström.“
220