Heft 
(1974) 19
Seite
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nun arrangierten Vorstellung hatte Barred ungefähr die Mitte des Seils erreicht, da kam ihm, ohne daß er davon unterrichtet war, von oben her aus Turmeshöhe ohne Balancierstange Kolter entgegen. Dem Eng­länder blieb nur übrig, entweder rückwärts das Seil hinabzugehen oder zu wenden. Beides konnte er nicht. Kolter rief ihm zu:Bleiben Sie, knieen Sie nieder! Barred tat es und Kolter hüpfte freihändig über ihn hinweg. Unter dem frenetischen Beifall der Zuschauer verließ Kolter das Seil.

Diese artistische Hochleistung wird zwar bei Fontane als Faktum bei­behalten, aber Ort, Zeit und Personen finden wir verändert. Zunächst ist nicht Aachen der Schauplatz, sondern Wien und dies im Jahre 1814, also zur Zeit des Wiener Kongresses. Dann ist es bei Fontane kein eng­lischer Seiltänzer, sondern ein russischer, namens Stiglischeck. Und nicht zuletzt legt Fontane die ganze Geschichte um vier Jahre vor. Nicht un­erwähnt soll in diesem Zusammenhang bleiben, daß sich die ganze Sache laut Fontane, anläßlich einer Wette zwischen dem König von Preußen und dem Kaiser von Rußland zugetragen haben soll. Es heißt dazu imBirnbaum:Und da habe denn, sofuhr Hradscheck fort, der König von Preußen zum Kaiser von Rußland gesagt: / Höre Bruder­herz, was Du von Deinem Stiglischeck auch sagen magst, Kolter ist doch besser, Parole dhonneur... / Darauf erfolgte die Wette, die der Russe verlor und auch bezahlte.

Es wäre nun wirklich ein Kuriosum sondergleichen, hätte sich derselbe Vorfall in zweifacher Fassung abgespielt- Die Frage bleibt offen, wer den richtigen Sachverhalt erzählte, Fontane oder die Kolter-Chronik. In der Literatur über Artistik wohl bewandert, konnte der Autor keiner­lei Hinweise Anden und wäre dankbar, den wahren Sachverhalt zu erfahren.

Buchbesprechungen

Mommsen, Katharina: Gesellschaftskritik bei Fontane und Thomas Mann. Heidelberg: Lothar Stiehm Verlag 1973. 125 S. (Literatur und Ge­schichte. Bd. 10.)

Obwohl gegen den Abschnitt über Thomas Mann (S. 59116) noch weit mehr kritische Einwände zu erheben wären, müssen wir uns hier aus Raumgründen im wesentlichen auf die Besprechung des Teiles beschrän­ken, der Fontane gewidmet ist (S. 1156).

Wenn über die Gesellschaftskritik eines Dichters geschrieben wird, ist es besonders wichtig, nach dem politischen Standpunkt des Autors zu fragen. Wir brauchen, um die politische Position der Verfasserin zu

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