Heft 
(1974) 19
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kennzeichnen, nur eine Einzelheit anzuführen. Ganz so, als habe es nie ein Sozialistengesetz gegeben, schreibt K- Mommsen:Zur Zeit des alten Fontane war die Freiheit der Rede und des Individuums umfassend gewährleistet, mehr als je zuvor in der Geschichte (S. 119). Diese reich­lich abwegige Behauptung läßt befürchten, daß die Verfasserin Fontanes Gesellschaftskritik von einem sehr konservativen Standpunkt aus beur­teilen wird. Und das ist in der Tat der Fall.

Man weiß, daß Fontane sich von einem wenn auch nicht vorbehaltlosen Bewunderer des Adels zu einem Kritiker des Adels entwickelt hat. Nach K. Mommsens Darlegungen hätte allerdings Fontane den Adel vor allem wegen seines Mangels an gediegener Bildung kritisiert. Zweifellos hat sich Fontane auch dagegen gewandt. In erster Linie aber betrachtete Fontane den Adel als grundsätzlich überholt und bestritt seine fernere Existenzberechtigung. Dagegen dürfte die Kritik am Bildungsmangel des Adels verblassen. Was das Bürgertum angeht, so warf Fontane auch ihmdas möchten wir gegen K. Mommsen feststellen nicht vorab den Mangel an Bildung vor, sondern das Bürgertum erschien ihm, solange es ökonomisch schwach war, uninteressant weil kümmerlich entwickelt. Erst später, als es wirtschaftlich aufstieg, forderte die Art, wie sich die reich werdende Bourgeoisie etablierte, d. h. die ganze Lebens­form des Bürgertums mit ihrer überwiegenden Orientierung am mate­riellen Besitz, mit ihrer Unwahrheit und Hohlheit, Fontanes kritischen Protest heraus- Daher war Fontane nicht bereit, dem Bürgertum eine politische Führungsrolle zuzugestehen. Dagegen hat er, was die Verf., die von denunteren Klassen spricht (S. 42), ungenügend beachtet, in seinen späteren Jahren die Zukunftsbedeutung des Proletariats sehr wohl gesehen, wenn auch nur in Umrissen und ohne daß diese Einsicht noch einen entscheidenden oder gar revolutionierenden Einfluß auf sein dichtersches Schaffen gehabt hätte.

Daß Fontanes Gesellschaftskritik sich entwickelt und verändert hat und folglich nicht ohne Widersprüche ist, verabsolutiert die Verf., so daß sie für Fontane eine prinzipielle Ungebundenheit in Anspruch nimmt. Fon­tane, so meint K. Mommsen, stand über den Dingen und über den Parteien. Da indessen die Fontane-Forschung erwiesen hat, daß von einemheiteren Darüberstehen bei Fontane keine Rede sein kann, wandelt die Verf. diese Devise in einfreies Darüberstehen ab (S. 46 bis 56). K. Mommsen weist nachdrücklich auf Fontanes Humor als ein (nach des Dichters eigenen Worten)heiter-souveränes Spiel mit den Erscheinungen dieses Lebens hin (S. 51) und findet dieFreiheit, unter Berufung auf den alten Stechlin, darin, daßhinter alles ein Frage­zeichen gesetzt wird (S. 52)- Darauf ist zu entgegnen: i

DasDarüberstehen bedeutet, genauer beschrieben, daß Fontane sich bemühte, Irrtum und Lüge, sofern sie als gesellschaftliche Mächte auf­traten, als solche zu erkennen und sich von ihnen so weit freizuhalten und zu distanzieren, wie das mit ihrer (nach Fontanes Meinung gege-

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