Schriften für und wider ihn brauste herauf 23 . Wenn Nietzsche auch von vornherein Gegner gehabt hat, so glaubten doch viele Intellektuelle, die gesellschaftskritisch eingestellt waren, Nietzsche als Verbündeten in Anspruch nehmen zu dürfen. Nietzsche wurde, wie Hans Kaufmann feststellt, „in der ersten Phase seiner Wirkung auf die deutsche Literatur überwiegend nicht als Ideologe reaktionärer Mobilisierung aufgefaßt, sondern lediglich als Interpret der am eigenen Leibe verspürten Krise der Gesellschaft“ 2 ' 1 . Die größte Anziehungskraft übte dabei Nietzsches Kritik an der herkömmlichen Moral aus. „Indem Nietzsches Moralkritik sich unverhüllt zu dem bekannte, was herkömmliche Moral bisher für böse ausgegeben hatte, was aber vom Kapitalismus täglich produziert wurde (Egoismus, Unterdrückung, Herrschaft brutaler Triebhaftigkeit und so weiter), hatte sie den Schein der Vorurteilslosigkeit und der Radikalität für sich. Daß Nietzsche damit den herrschenden Klassen empfahl, sich von allen moralischen Hemmungen freizumachen und zu unverhüllter Barbarei überzugehen, daß die Triebkraft seiner Konzeption ein wilder Haß gegen alle Emanzipationsbestrebungen der Unterdrückten war, wurde kaum durchschaut“ 23 . In dieser ersten Phase der — noch undifferenzierten — Wirkung Nietzsches war Nietzsche eben für manchen lediglich ein Kritiker der Gesellschaft, der noch nicht daraufhin befragt wurde, von welchem Standpunkt aus und mit welchem Ziel er Kritik übte. Und selbst die „extrem subjektive Betrachtungsweise“, mit der Nietzsche an geschichtliche Vorgänge herantrat, schloß, wie Kaufmann hinzufügt, nicht aus, „daß bestimmte Momente seines Denkens das künstlerisch-kritische Vermögen einzelner Dichter schärften, indem sie das Mißtrauen in die Endgültigkeit und Würde der bestehenden Ordnung verstärkten und zum Abbau konventioneller und trügerischer Illusionen beitrugen“ 20
In diesem ziemlich oberflächlichen Sinne ist Nietzsches Philosophie anfangs von einigen verstanden worden. Und so verstand sie zunächst auch Fontane, der nachweislich bereits während seiner Beschäftigung mit Schopenhauer in den achtziger Jahren Schriften Nietzsches herangezogen hatte 27 . Insbesondere da „der Beobachter und Empiriker Fontane [. ..] Zeit seines Lebens kein Freund theoretischer, gar spekulativer Gedankengänge“ , war“, wird er sich mit Nietzsches Werken nicht sehr eingehend befaßt haben. Das bezeugt Fontane sogar selbst, wenn er am 8. 6. 1893 an Friedrich Stephany schreibt: „Was Nietzsche angeht, so stimme ich Ihnen, nach dem wenigen, was ich von Nfietzsche] kenne, völlig bei“ 29 . Und er wird auch nichts dabei gefunden haben, wenn er Nietzsche so interpretierte, wie er ihn verstehen wollte.
Aus all dem erklärt sich Fontanes anfängliche, offenbar zustimmende Berufung auf Nietzsche.
Die ablehnende Haltung, die Fontane nachher in seinem letzten Roman gegenüber Nietzsche einnahm, führte ihn in das Lager der Gegner Nietzsches, an deren Spitze, weil mit den besten, wissenschaftlich begründeten Argumenten ausgerüstet, Franz Mehring stand 30 . Zugleich
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