Diese Äußerung meiner etwas herben und grade mich mehr schätzenden als liebenden Mutter verklärte mir jene Karlsbader Tage. Außerdem verliehen sie mir eine gewisse Berechtigung, die Schilderung der Beziehungen zwischen meinem Vater und mir trotz aller eingangs erwähnten Zweifel zu wagen. Zwar werde ich dabei im wesentlichen von mir erzählen müssen, aber das Licht, das gleichzeitig auf meinen Vater fällt, wird viel von ihm verraten. Unleugbar liegt in jedem Menschen ein geheimnisvoller Kern versteckt, von dem aus unbewußt unser Empfinden und Handeln bestimmt wird und der gar nicht selten im Widerspruch zu dem steht, was wir selbst für unser ureignes Wesen halten. Zum Verständnis solch unerklärlicher Auswirkungen gelangt man kaum bei sich selbst, geschweige denn bei anderen Menschen, nur werden gleiche Wesensart für das Kennen und Erkennen des anderen förderlich sein, weil sich die tiefsten Quellen der Anschauungen und Handlungen aus dem selben Ursprung heraus wenigstens ahnen lassen.
Um nun endlich vom allgemeinen auf das Thema dieses Abschnitts zu kommen, so nehme ich als Beispiel für das vorher Gesagte eine Charaktereigenschaft meines Vaters vorweg, in der ich ihn besser zu verstehen glaube als seine Lebensgefährtin und seine ihn fast vergötternde Tochter. Beiden und auch wohl der Mehrzahl seiner Bekannten galt er als eine zache Natur, die im Einzelfall von seinen höchst temperamentvollen Damen sogar als Feigheit ausgelegt wurde. Sie verkannten sein zurückhaltendes Wesen, weil sie impulsiv einen Faustschlag auf den Tisch da für angebracht hielten, wo er noch Gegengründe gelten ließ oder zu verzeihender Milde neigte oder gar vornehm zur Tagesordnung überging, weil Sache oder Person ihm einen Disput nicht lohnten.
Ich denke darin anders über ihn und verweise mit dieser Meinung auf die in „Kriegsgefangen“ geschilderten Vorgänge während und nach seiner Festnahme in Domremy, in der Rattennacht zu Langres und der Rückreise von der Insel Oleron nach Genf. Man kann seinem Verhalten dabei eine große Hochachtung nicht versagen: ein ganzer Mann, klug genug, um die Gefahr für sein Leben zu erkennen, tapfer genug, um ihr bis zu den äußersten Konsequenzen ins Auge zu sehen. Dem möglichen Einwand, „ja so schreibt er zwar, aber als feinnervige Natur ist er sicher von Angstzuständen geplagt worden, die er in seinem Buch verschwiegen hat“, möchte ich widersprechen: ich glaube aus ähnlicher Veranlagung heraus an die Wahrheit seiner Darstellung. Naturen wie die unseren sind meist nur in der Vorstellung unsicher, vorsichtig, zurückhaltend. Sie vermeiden nicht nur gern große Szenen, schroffe Entschlüsse, sondern gehen ihnen allein aus ästhetischen Gründen der Abneigung gegen unvermeidliche Emotionen lieber aus dem Weg. Muß es aber sein, weil allzu wichtige Fragen wie etwa die Ehre ins Spiel kommen, oder ist aus einer drohenden Gefahr eine reale geworden, so wachsen sie über sich hinaus, werden ihrer Bedenken und ihrer Ängste völlig Herr und übertreffen alsdann nicht selten manchen sogenannten Helden des Alltags.
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