Handelte es sich bei meinem Vater 1870 um sein Leben, so 1876 bei Aufgabe der ihn finanziell sichernden Stellung an der Kunstakademie um sein Ehrgefühl und seine Menschenwürde. Vielleicht zu sensibel in Empfindungen, aber welche imponierende Größe im Handeln! Im Bewußtsein seines Wertes hatte er es früher jahrelang — anscheinend feige — eingesteckt und als Philosoph nur belächelt, wenn man glaubte, ihn als unstudierten Mann über die Schulter ansehen zu können. Hier aber fühlte er sich durch die Akademie erniedrigend behandelt und zog daraus mutig die Konsequenzen ohne Rücksichtnahme auf seine und seiner Familie wirtschaftliche Lage. Aber auch in Fragen seiner künstlerischen Überzeugung war er alles andere als feige, wie schon seine Tunnel- und Rütli-Tage zeigen. Da fand der Mann, der Ruhe und Frieden liebte, der offiziell nicht gern redete, sondern unverbindlich zu plaudern bevorzugte, dann durchaus den Mut zum Rufer im Streit und kannte kein Marchandieren und Paktieren, keine Opportunität, keine Rücksichtnahme auf etablierte Größen. Für ihn galt das „Vor Dir bestehen können“ in ganz besonderem Maße.
Ich komme nun zu einer andern Seite seines Wesens. Zwei Seelen wohnen — ach — in jedes Menschen Brust, und meinem Vater war nichts Menschliches fremd. Man kann sogar sagen, daß nur wenige ihre Seelenzwiespältigkeit so hochgradig empfunden haben wie er. Das lag zum großen Teil in seinem besonders tief ausgebildeten Sinn für Wahrheit und — damit das Wahre auch in Wirklichkeit obsiege — für Gerechtigkeit. Allerdings neben diesem Sinn für das Wahre und seinem Streben danach hegte seine künstlerisch fein organisierte, um nicht zu sagen, komplizierte Natur ständig Zweifel an dem, was unbedingt und wirklich als wahr anzusehen sei. Diese skeptischen Bedenken richteten sich logischerweise auch gegen ihn selbst. Sobald er einen Gedanken ausgesprochen hatte und ihn damit zu etwas wirklich Vorhandenem und in weiterer Folge demnach zu einem nunmehr anfechtbaren Objekt gestaltet hatte, begann die Kritik in ihm wach zu werden. Er prüfte sich auf Herz und Nieren, ob das von ihm Gesagte tatsächlich auch ganz wahr sei, ob nicht Ausnahmen entstehen könnten, in denen es seine unbedingte Richtigkeit verlöre. Was ist Wahrheit? — diese mit Zweifeln belastete Überlegung mußte eine so gründliche und ehrliche Natur wie meinen Vater ganz besonders häufig beschleichen. Daher seine Neigung, die ausgesprochene Meinung wieder einzuschränken, daher seine unterschiedliche Ansicht zu Vorgängen, daher die gelegentlichen Widersprüche nicht nur in seinen kritischen Werken. Daher auch, um nur einen Punkt zu präzisieren, die unbestreitbare Tatsache, daß er in politischer Hinsicht als Schriftsteller von jeder Partei mit Fug und Recht für sich in Anspruch genommen werden kann. Ich entsinne mich, zu seinem Tode oder anläßlich eines Erinnerungstages im „Vorwärts“ eine Reihe übrigens guter Artikel gelesen zu haben, in denen mit Geschick versucht wurde unter Anführung zahlreicher Belegstellen aus seinen Werken, Theodor Fontane eine wahrhaft sozialdemokratische Gesinnung nachzuweisen. (Freilich hatte der Verfasser wohlweislich die zahlreichen Stellen nicht
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