Heft 
(1974) 20
Seite
258
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angeregt zu werden als bei den notgedrungen sich meist an der Ober­fläche haltenden Allgemeingesprächen.

Viel freie Zeit gewann er dadurch, daß er weder Klubgänger noch politischer Vereinsmeier, kein Lokalbesucher, kein Freund des Karten­spiels oder ähnlicher geistiger Zerstreuungen das edle Schach mit eingeschlossen war. Demzufolge schieden bei ihm alle Ablenkungen aus, die dem im modernen Leben stehenden Künstler über Gebühr Zeit und Nerven kosten. Er lebte im wesentlichen seiner Arbeit. Selbst seine Briefe, die er als ungewöhnlich höflicher Mann in zahlloser Menge schrieb und mit seiner persönlichen Note versah, waren Ausdrude seines künstlerischen Betätigungstriebes, an dem sich die Fontanegemeinde jetzt wohl ebenso erfreut wie an seinen dichterischen Werken, umso mehr, als seine Persönlichkeit grade in den Briefen am ungezwungensten sichtbar wird, sind diese ohne jede künstlerische Absicht geborenen Kunstwerke ein ganz besonderer Schatz. Gleich den leichtbeschwingten Kindern seiner Briefmuse waren seine zum Druck bestimmten Werke zunächst das Ergebnis leichter Geburtswehen; das dicke Ende kam erst nach. Gleichgültig, ob der schöpferischen eine baldige Ausgestaltung folgte oder ob diese nach dem Horazischen Mahnwort in Angriff genom­men wurde: non prematur in annum, die Durch- und Umarbeitungs­monate waren stets eine anstrengende, nervenaufreibende Zeit. Sie standen im Zeichen von Ändern, Feilen, Kürzen. Bei der Neigung meines Vaters zu epischer Breite, die dem echten Fontane-Schwärmer oft die fein­sten Leckerbissen bringt, würden Kürzungen dem Geschmack des Durch­schnittspublikums sehr entsprochen haben, wenn sie sich nicht grade auf solche Stellen'erstreckt hätten, von denen die breite Masse der Leser nicht genug bekommen kann: die Liebesszenen. Diese lagen der keuschen, wohl auch etwas kühlen und überdies so kritischen Natur meines Vaters gar nicht recht. In dieser Hinsicht sind mir zwei Aussprüche von ihm im Gedächtnis geblieben. Der erste galt seinem Kreuzzeitungs-Kollegen George Hesekiel und zeugt von der Abneigung meines Vaters gegen jede ausführliche Behandlung des Liebespunktes, indem er meinte:Ich mag nun mal nicht die eingehende Schilderung von Minneszenen, bei denen man die Küsse zählen kann. Die andere scherzhafte Bemerkung bezog sich auf Hesekiels gleichfalls und mit Erfolg schriftstellernde Tochter Ludovika:Wenn Ludchen ihre eigenen Romane zweimal durchliest, ist sie so gut wie verheiratet.

Diese verwerfende Ablehnung von ausmalender Erotik beruhte auf künstlerisch ästhetischen Grundsätzen und nicht etwa auf Prüderie. Dafür, daß Theodor Fontane literarisch Liebesverfehlungen nicht aus dem Weg ging, sondern vielmehr Irrungen-Wirrungen auf diesem Gebiet durchaus, freilich in dezenter Weise behandelte und meist durch drei Sternchen im Text andeutete, gibt es in seinen Werken genügend Be­weise. Die drei Sternchen verführen mich ihrer Aufgabe gemäß dazu, eine kleine Anekdote einzuschieben, die sich auf die dergestalt gekenn­zeichnete Hingabe Victoire von Carayons an Schach von Wuthenow bezieht: Eines Tages erhielt mein Vater den anonymen Brief einer