Dame, die sich darin als seine Verehrerin bezeichnet, aber doch nicht umhin kann, dem Meister eine gar zu große Flüchtigkeit vorzuwerfen. Denn im letzten Kapitel spräche die verwitwete Victoire brieflich von ihrem Kinde, während doch Schach sich bereits unmittelbar nach dem Hochzeitsmahl erschossen habe! Dieser reinen, literarisch allerdings wenig geschulten Seele hatten also trotz des „Du“ im weiteren Verlauf des 8. Kapitels und trotz der „Zwangs“-Vorstellung beim König u. a. m. die drei Sternchen umsonst gestrahlt.
Um auf die angeschnittene Frage der Prüderie bei meinem Vater zurückzukommen — sie lag ihm völlig fern! Im Gegenteil, er konnte an recht gepfefferten Geschichten seine helle Freude haben, sofern sie nicht nur unanständig, sondern wirklich komisch waren. „Saftige“ Geschichten, die mein Bruder George aus dem Offiziers-Kasino oder ich von der studentischen Bierbank mitbrachten, fanden in unserm Vater beinahe immer einen dankbaren Zuhörer. In schier übertriebener Anerkennung vermochte er sich vor allem an aus dem Moment geborenen oder, wie er sich ausdrückte, aus der Pistole geschossenen Witzen zu erheitern. Die Gabe für solche Schlagfertigkeit besaß ich in höherem Grade als er und benutzte sie auch in dem Bewußtsein, damit meinem alten Herrn Spaß zu machen. Ein solcher Witz wurde gradezu eiserner Bestand unserer und nahe befreundeter Familien. Zum Verständnis muß ich vorausschicken, daß mein Vater, der im Straßen- oder gar Gesellschaftsanzug recht gut aussah, im Grunde auf seinen äußeren Eindruck wenig Wert legte, ein Empfinden, das er leider auf mich vererbt hat. An Tagen, die er seinem gewohnten Spaziergang nicht widmen konnte, blieb er häufig im ungestärkten Hemd mit einer seiner vielen alten Hosen sowie einem Schlafrock-Dienste leistenden, gleichfalls hochbetagten Überzieher. Da er in diesem Kostüm Näherstehende unbekümmert empfing, so gab es den eigenen Familienmitgliedern gegenüber kaum eine Gene, weshalb auch meistens die Tragebänder fehlten, die der Bequemlichkeit halber an der Ausgehhose geblieben waren. Eines Tages mochte sich das hintere Schnürband aus der Schnalle gelöst haben, jedenfalls rutschten meinem Vater beim plötzlichen Aufstehen die Unaussprechlichen herunter. Über das immerhin etwas Peinliche half ich sofort mit dem Hinweis hinweg: „Abfall der Niederlande“! — der dankbarste Lacher war natürlich mein Vater. Begreiflicherweise bereitete mir solche Anerkennung große Freude, aber es betraf doch immer nur Erzeugnisse des Augenblicks oder für den Augenblick, die mit diesem wie eine Seifenblase vergingen. Es war eine kleine, für das häusliche und gesellige Leben nette Mitgift, die jedoch auf Kalauer, Witze, Toaste und Gelegenheitsgedichte beschränkt blieb und der der väterliche Beifall auch nur innerhalb dieser Grenze galt. Versuche, diese Gabe weiter zu bilden und über das Gelegentliche hinaus Bleibendes zu schaffen, sind stets auf den entschiedensten Widerstand meines Vaters gestoßen. Dies klingt eigentlich viel zu feierlich, denn bis auf einen einzigen Fall ist bei den Gesprächen, die wir hierüber geführt haben, die Angelegenheit stets nur theoretisch erörtert worden mit dem Schlußrefrain: Bleibe Beamter und nähre Dich redlich! Einmal jedoch
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