Heft 
(1974) 20
Seite
260
Einzelbild herunterladen

habe ich meinem Vater eine kleine Novelle vorgelesen, zu der ich meine Eberswalder Eindrücke verwendet hatte. In das zweite Drittel fiel das Abendbrot, das wir beide allein einnahmen und das mir meinem schwei­genden Papa gegenüber wie das Henkersmahl eines zum Tode Ver­urteilten vorkam. Jedenfalls war mir nachher bei der Hinrichtung selbst wohler. In liebenswürdiger Weise hob mein Vater hervor, daß mir die Naturschilderung und humoristische Ansätze meiner Arbeit gelungen seien, um dann aber abzuschließen:Dennoch ist es nichts damit, man packt solche Dinge ganz anders an; laß die Hände davon! Ähnlich soll er sich meiner Schwester gegenüber, die er mit Recht für das begab­teste seiner Kinder hielt, bei einem literarischen Versuch ihrerseits geäußert haben. Auf dem Gebiet der Schriftstellerei, das er, von den Eintagsfliegen der Journalistik abgesehen, für eine heilige Kunst hielt, war er ein überaus strenger Richter und kannte keinerlei Rücksichten, auch keine väterliche Schwäche. Solche Erkenntnis ist für den Betroffenen zunächst recht schmerzhaft, jedoch bin ich dem väterlichen Mentor dank­bar, daß er sie mir beizeiten verschafft hat. Daß mein Vater in seiner Kritik objektiv war und nicht etwa nur den Maßstab eigenen Könnens und eigner Wesensart anlegte, sondern Talent auch auf ihm ferner liegendem Gebiet zu erkennen und anzuerkennen vermochte, hat er in seiner Stellungnahme zu den Realisten und Naturalisten insbesondere zu Gerhart Hauptmann bekundet. Anerkennende Kritik war bei ihm seltener als ablehnende, das ist umso erstaunlicher, als er bei seiner im Grunde weichen Natur, gar nicht so selten dasSuaviter im modo außer Acht ließ. Dies kann ich mir nur aus meiner eigenen Veranlagung heraus erklären, die mich trotz gleicher Neigung zur Milde im Zwang der dienstlichen Pflicht manchmal streng, ja, unerbittlich sein ließ.

Zu einer Strenge wie in künstlerischen Fragen hatte mein Vater jedoch auf pädagogischem Gebiet nur wenig Gelegenheit. Damit wurde er nur bei großen Haupt- und Staatsaktionen behelligt, und damit war ein fortiter in re unabweisbar. Da also Bestrafungen, wie sie auch bei leidlich gut geratenen Kindern Vorkommen müssen, bei uns in das mütterliche Ressort fielen, sind mir die wenigen Ausnahmen besonders fest im Gedächtnis geblieben. Ein Fall betraf mich selbst:

Ein schöner Maitag. Ich war ein schmächtiger Vorschüler mit selbst­verständlicher Maikäferpassion, die sich in der Umgegend der Hirschel- straße nicht verwirklichen ließ. Zum Glück hatte ich einen Schulkame­raden Köhler, der mir mitfühlend einige Krabbeltiere versprach. Ich sollte sie mir im Laden seines Vaters in der Wilhelmstraße nahe dem Belle-Alliance-Platz abholen. Als ich, in Vorfreude schwelgend, aufgeregt dort ankam, hatte der Junge grade Klavierstunde. Nach mir ewig vorkommender Wartezeit erschien der Freund mit der niederschmetternden Kunde, daß die Biester alle krepiert seien, aber auch mit der frohen BotschaftWir holen uns neue! Munter ging es nun in die damals für leichtfüßige Jungens verhältnismäßig nahe Hasenheide, wo die Maikäfer im Schein der allerdings schon tiefstehenden Sonne munter herumschwirrten. Wir hatten zwar Jagdglück, aber die mitgebrachte