Heft 
(1974) 20
Seite
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klassizistischen Tradition findet sich noch in Fontanes Brief an Hertz, wenn er von Figuren spricht,wie sie sich damals fanden und im Wesentlichen auch noch jetzt finden. 32 Außerdem sah sich Scott durchaus als berechtigt an, historische Authentizität zu Gunsten einer Anpassung an den Zeitgeschmack aufzugeben. In der Einleitung zu Ivanhoe heißt es: It is necessary, for exciting interest of any kind, that the subject assumed should be, as it were, translated into the manners, as well as the language, of the age we live in. 33 Und schließlich versuchte er, man­chem seiner Romane eine allgemeine Verbindlichkeit zu geben, indem er sie in geschichtlich unauffälligen Epochen spielen ließ. Solch eine Epoche ist für ihn die mittlere Vergangenheit, nämlich das 18. Jahrhundert. Zu Beginn des Waverley erklärt der Erzähler, daß Erzählungen mit buntem und fesselndem Hintergrund entweder in die weite Vergangen­heit oder aber in die Gegenwart verlegt werden müssen. Da er aber nicht so sehr an dem politischen und sozialen Hintergrund seiner Geschichte, sondern vor allem an den Charakteren und deren psycho­logischer Entwicklung interessiert ist, so wählt er das 18. Jahrhundert. Fontane mißversteht Scotts Zeitwahl also völlig. Waverley spielt nicht um 1745, weil diese Epoche noch historische Präzision und Unmittelbar­keit zuläßt, sondern im Gegenteil, weil sie den Erzähler in dieser Hinsicht gerade nicht einengt.

Wie falsch aber auch Fontanes Deutung war, sie erklärt leicht, warum ihm persönlich die Romane Scotts, die im 18. Jahrhundert spielen, am besten gefielen. Es ist daher auch nur natürlich, obwohl Kritiker das bisher nicht erwähnt haben, daß Fontane die drei Romane am genauesten studierte, die in diese Zeitspanne fallen, nämlich Waverley, den Kerker von Edinburgh und den Altertümler, und von diesen drei besonders den Altertümler, d. h. den gegenwartnächsten. (Der Roman erscheint an vorletzter Stelle in der chronologischen Liste.)

Fontanes eigener Bericht über die Lektüre des Altertümlers in Thale läßt keinen Zweifel darüber, daß er ihn in direktem Zusammenhang mit Vor dem Sturm las, ja seine eigene Arbeit an diesem Maßstab maß, was sich von keinem der anderen Scottschen Romane außer von Waverley sagen läßt. Es ist daher nicht überraschend, daß die Verbin­dungen von Vor dem Sturm zu dem Altertümler viel stärker sind als zu den übrigen Romanen Scotts, Waverley nicht ausgenommen. Keiner der Kritiker, die sich mit Vor dem Sturm beschäftigen, haben diesen Umstand jedoch erwähnt. Fontanes eigenes Urteil mag mit zu dieser Vernachlässigung beigetragen haben. Seine Tagebucheintragung über den Altertümler lautet:Meine Begeisterung war anfangs die alte; es zieht sich aber doch ein Element des Oberflächlichen, des Zu-leicht-Nehmens beim Arbeiten durch alle seine Produktionen hindurch, und vieles ist geradezu gehuschelt. Nur sein seltenes Talent und vielleicht noch mehr seine nie dagewesene Liebenswürdigkeit ... lassen über diese Fluddrig- keit hinwegsehn. 31

Dieses Urteil umschließt, wie H. H. Reuter hervorgehoben hat, 35 An­erkennung und Tadel und bezieht sich außerdem auch auf die Romane

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