Heft 
(1974) 20
Seite
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Das trifft sowohl für Waverley als auch für den Kerker von Edinburgh zu. Im Altertümler dagegen bleiben die Figuren nur lose verknüpft, und der Roman ist eine lange Aufeinanderfolge kleiner Szenen. Die lose Struktur ist aber auch das Merkmal von Vor dem Sturm, auf das Kritiker immer wieder als das Hauptmerkmal hingewiesen haben. Hier und dort fällt der Kapitelanfang meist mit einer neuen Szene mit neuen Figuren und einer neuen Umgebung zusammen. In Waverley und dem Kerker von Edinburgh dagegen sind die Kapitel meist kausal verbunden und tragen dazu bei, den komplizierten Handlungsverlauf und die Entwick­lung der Charaktere doch übersehbar und verständlich zu machen. An manchen Stellen wird sogar auf diese enge Verbindung zwischen den Kapiteln vom Erzähler ausdrücklich hingewiesen. So sagt er z. B. am Ende des vierten Kapitels in Waverley:The effect of this indulgence upon his temper and character will appear in the next chapter . 42 Im Altertümler und in Vor dem Sturm ist die Kapitelfolge lose und wird darüber hinaus noch von langen Interpolationen unterbrochen. Die meisten Romane Scotts haben lyrische Interpolationen, aber diese reihen sich schon ihrer Kürze wegen leicht in den Handlungsverlauf ein. Im Altertümler ist aber außer diesen noch eine lange, unabhängige Prosageschichte eingeschaltet, The Fortunes of Martin Waldeck, die den Handlungsverlauf, wäre er einheitlich und linear, auseinandersprengen würde. Die beiden Tagebuchauszüge in Vor dem Sturm haben den gleichen Effekt.

Ein weiteres Merkmal der nur losen Verknüpfung paralleler Handlungs­stränge im Altertümler ist das fast gänzliche Verschwinden von wunder­baren Zusammentreffen, durch die sich die anderen Romane, besonders der Kerker von Edinburgh auszeichnen. Diese unerwarteten Zusammen­treffen von Personen an unwahrscheinlichen Schauplätzen haben ihren Hintergrund darin, daß dem Erzähler jedes Mittel recht ist, seine Per­sonen und die Handlungsfäden zu verknüpfen, um sie endlich einem einheitlichen Ende zuzuführen. Unwahrscheinliche Zusammentreffen haben außerdem ein Element der Überraschung, das die Aufmerksam­keit des Lesers fesselt und die dramatische Entwicklung des Romans steigert. Sowohl der Altertümler (die unselige Episode mit dem ver­schollenen Sohn immer ausgenommen) wie Vor dem Sturm kommen ohne diese etwas mechanischen Handgriffe aus, und lassen ihre Figuren realistischer nebeneinander herleben. Ja, Vor dem Sturm wendet sich sogar, ähnlich wie bei dem Motiv derSternenprinzessin, die sich nicht als richtige Prinzessin entpuppt, direkt gegen diesen trivialen Trick. Die Figuren auf der Kutsche, die Lewin im Augenblick der Krise sieht, stellen sich als Fremde heraus, nicht als Kathinka und Bninsky, wie Lewin (und der Leser) fürchtet.

Die Aneinanderreihung kleiner Szenen im Altertümler hat eine wichtige Folge: der Erzähler tritt zurück, und die Charaktere mit ihren Dialogen übernehmen das Feld. Die Lockerung der Struktur geht so weit, daß der Leser nicht nur keinem einfachen Handlungsverlauf mehr folgt, sondern auch sein Orientierungsvermögen an Hand einer übergeordneten Per-

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