Heft 
(1975) 21
Seite
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scheiden gelernt hatte, erblickte man in der Errichtung von Bauwerken im reinen einheitlichen Stil nach den Merkmalen eines bestimmten Zeit­abschnitts vergangener Jahrhunderte einen bedeutenden Fortschritt, den Ausdruck einer neuen, wissenschaftlich gebildeten Zeit.

Das Interesse an den historischen Denkmalen ist durch das historisch orientierte zeitgenössische Kunstschaffen zweifellos gefördert worden. Zugleich ergaben sich jedoch aus der engen Verbindung zwischen zeit­genössischem Kunstschaffen und Denkmalschutz und -pflege erhebliche Nachteile, ja Gefahren für den Denkmalbestand. Dieselben Architekten, Maler und Bildhauer, die neue Werke in verschiedenen historischen Stilen schufen, fanden auch bei der Wiederherstellung und Ergänzung alter Werke ein reiches Betätigungsfeld. Die Grenzen zwischen Wieder­herstellung der Denkmale und Neuschöpfung wurden fließend. Daraus ergab sich, daß die allgemeinen Stilmerkmale, die lehrbar sind, auch bei der Beurteilung der Baudenkmale viel mehr im Blickpunkt standen, als die unter bestimmten historischen Bedingungen hervorgebrachte originale Leistung. Die totale Erneuerung 'der überkommenen histo­rischen Substanz wurde deshalb ebenso als legitimes Mittel angesehen, wie die weitgehende Vervollständigung fragmentarisch überkommener Denkmale.

Aus der Anwendung des Dogmas von der Stileinheit und Stilreinheit auf die historischen Denkmale ergaben sich schwerwiegende Eingriffe in die Denkmalsubstanz. In verschiedenen Jahrhunderten entstandene Baudenkmale mit ihrer Ausstattung suchte man auf einen sogenannten ursprünglichen Stil zurückzuführen. Bauteile oder Ausstattungsstücke aus anderen Stilepochen wurden dabei oft nicht nur entfernt, sondern auch zerstört. Viele bedeutende Kathedralen haben in dieser Zeit einen großen Teil ihrer alten Ausstattung verloren. In diesem Vorgehen offenbarte sich eine im Grunde ahistorische Haltung. Unfähig, in den Denkmalen Zeugnisse größerer historischer Zusammenhänge und Ent­wicklungen zu sehen, konzentrierte sich das Interesse am jeweiligen Denkmal immer nur auf einen sehr begrenzten historischen Abschnitt, auf einen Ausschnitt aus seiner Geschichte.

Auch die Vorliebe der zeitgenössischen Kunst für das Symmetrische und Regelmäßige spiegeln die historischen Denkmale. Eintürmig über­kommene Kirchen z. B. erhielten um der Vollständigkeit und der Sym­metrie willen in vielen Fällen einen zweiten Turm.

Das Schaffen freier Plätze um die zuvor von winkligen Gäßchen mit kleinen Häusern umgebenen Monumentalbauten entspricht ebenfalls diesem Ordnungsideal. Alles sollte klar und überschaubar sein, außen wie innen. Die im 19. Jahrhundert überarbeiteten Architekturteile an den historischen Denkmalen sind durch die Regelmäßigkeit, die Härte und Glätte zumeist auf den ersten Blick zu erkennen. Bei der Instand­setzung von Kirchenbauten kam noch hinzu, daß die auf die Romantik zurück gehende Vorliebe für das Mittelalter noch bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hineinwirkte und bei der Restaurierung mittelalterlicher Kirchen vielfach noch zur Zerstörung barocker Zutaten

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