Wissenschaftlich untersucht wurde er erstmalig durch den österreichischen Kunsthistoriker Alois Riegl in seiner Schrift: „Der moderne Derikmal- kultus, sein Wesen, seine Entstehung“ (Wien 1903). Riegl schreibt darin u. a.: „Sobald aber das Individuum (das vom Menschen wie das von der Natur geschaffene) geformt ist, beginnt die zerstörende Tätigkeit der Natur, das ist ihrer mechanischen und chemischen Kräfte, die das Individuum wieder in seine Elemente aufzulösen und mit der amorphen Allnatur zu verbinden trachten. An den Spuren dieser Tätigkeit erkennt man nun, daß ein Denkmal nicht in jüngster Gegenwart, sondern in einer mehr oder minder vergangenen Zeit entstanden ist, und auf der deutlichen Wahrnehmbarkeit seiner Spuren beruht somit der Alterswert eines Denkmals.“ 20
Seit der Arbeit von Riegl hat sich die Ansicht weitgehend durchgesetzt, daß solche Altersspuren den Denkmalen, einen dokumentarischen, vor allem aber einen besonderen Stimmungswert geben können.
Der Sinn für den Wert der Altersspuren an den historischen Denkmalen läßt sich bereits in der Romantik nachweisen. Seine entschiedenste Ausprägung hatte er in den Ruinenmotiven der romantischen Literatur und Malerei gefunden.
Kuglers historisches und kunsthistorisches Wissen, wie seine wachsende Skepsis gegenüber der ganzen eklektischen Kunst, verbanden sich mit einer auf die Romantik zurückgehenden Vorliebe für die emotionale Wirkung des Alten mit seinen Altersspuren. Dem stimmungsvollen Halbdunkel mittelalterlicher Kirchenräume, deren altersgraues Mauerwerk durch die farbigen und patinierten Glasfenster nur spärliches Licht erhielt, hat er entschieden den Vorzug vor einer hellen, frisch restaurierten Kirche gegeben. In seinen kritischen Bemerkungen zur Restaurierung des Magdeburger Domes (1832) beklagt er den Verlust der Stimmungswerte im Namen der Geschichte und Poesie. Eingriffe in historisch Gewachsenes, helle Glasfenster und weiße Austünchungen hätten den geschichtlichen Zauber genommen: „Aber jenes magische Helldunkel, welches wie eine schöne fromme Sage vergangener Zeiten zu uns spricht und die Brust mit einer stillen Sehnsucht füllt und welches gleichsam ein Schatten ist der heiligen, märtyrerglühenden Fensterbilder, — jener geschichtliche Zauber ist geraubt.“ 21
Besonders deutlich tritt der emotionale Wert, den Kugler dem gealterten Bauwerk beimaß, in seinen Äußerungen der unter Leitung von Johannes Schraudolph 1845—1853 vorgenommenen Neuausmalung des Speyrer Domes hervor. Es heißt darin: „Alle diese bunte Bemalung und Vergoldung an Wandflächen, Säulen, Gesimsen, Gewölben will uns dies alte Haus neu machen, will uns das Gefühl erwecken, als wären wir, die Menschen von heute und das Haus von acht Jahrhunderten, Kinder desselben Tages; und doch empfinden wir es gleichzeitig, daß es nicht so ist, daß durch all diesen Glanz und diese Pracht ein Zug unlösbaren Zwiespaltes hindurchgeht. Neu wird der Tempel doch nicht, und er hat, für das Innere wenigstens, nur die Heiligkeit des Altertums eingebüßt,
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