Der alte priest deutet seine Tochter als ein Naturkind, eine Vorstellung, die durchaus erhalten bleibt. Im ersten Absatz begegnet der LeSer schon der Schaukel, die als wiederkehrendes Motiv einen wichtigen Gesichtspunkt von Effis Charakter hervorhebt: ihre Ungebundenheit und zugleich ihre Wankelmütigkeit. Die Schaukel, die Effi so sehr liebt, ist die von Hohen-Cremmen, die mit ihrer glücklichen Freiheit verbunden ist: Wenn sie in eine künstliche Atmosphäre verpflanzt wird, verblaßt dieses Bild zu einem Schaukelstuhl, in dem uns Effi zu verschiedenen kritischen Zeiten begegnet. Bei Effis näherer Bekanntschaft mit Crampas, d. h., als er im Laufe eines Frühstücksgesprächs auf der Innstettischen Veranda Gesetzlichkeit als „langweilig“ bezeichnet, sitzt sie auf einem Schaukelstuhl, wo sie sich wohlfühlt. Wenn Effi zum ersten Mal nach ihrer vorgetäuschten Krankheit aufsteht, einer Krankheit, durch die sie ein Wiedersehen mit Crampas vermeiden will, findet sie der alte Rumm- schüttel in einem Schaukelstuhl, und die Gefahr, daß ihr Ehebruch entdeckt wird, scheint vorbei zu sein. Effi setzt sich auch in einen Schaukelstuhl, um den ihre ganze Existenz verändernden Brief von ihrer Mutter zu lesen.
Diese Schaukelstuhlerinnerungen sind aber nur schwache Abbildungen, Echo des Urbildes, das Effis Wesen gehört. Kurz vor ihrer Hochzeit sagt sie: „Ich klettere lieber, und ich schaukele mich lieber, am liebsten immer in der Furcht, daß es irgendwo reißen oder brechen und ich niederstürzen könnte. Den Kopf wird es ja nicht gleich kosten .“ 3 Mit Effis Vorliebe für Schaukeln ist das Element der Gefahr verbunden, und das Gefährliche lockt sie auch an. Selbst als sie schon Mutter geworden war, hatte die Schaukel ihren Reiz für sie nicht verloren. Während eines Besuches bei ihren Eltern, nach Annies Geburt, fühlt sich Effi auf dieselbe Weise von der Schaukel angezogen wie in ihrer Kindheit: Sie empfindet beim Schaukeln immer noch „etwas eigentümlich Prickelndes, einen Schauer süßer Gefahr“ /* Das letzte Mal, wo Fontane uns Effi beim Schaukeln zeigt, ist kurz vor ihrem Tode, auf einem Spaziergang mit Niemeyer:
„Sie sprang hinauf mit einer Behendigkeit wie in ihren jüngsten Mädchentagen ..., und setzte das Schaukelbrett durch ein geschicktes Auf- und Niederschnellen ihres Körpers in Bewegung. Ein paar Sekunden noch und sie flog durch die Luft, und bloß mit einer Hand sich haltend, riß sie mit der anderen ein kleines Seidentuch von Brust und Hals, und schwenkte es wie in Glück und Übermut... ; mir war, als flog’ ich in den Himmel .“ 5
Jetzt aber richtet sich der an Effi haftende „Hang nach Spiel und Abenteuer“ aufs Himmlische statt auf das Irdische.
Ein anderer Aspekt der Naturbezogenheit Effis weist auch eine Verbindung mit dem der Schaukel auf, wie das eben angeführte Zitat bestätigt: Sie bleibt wie ihre Mutter sie in ihrer frühen Jugend nennt: „Tochter der Luft“, immer am Trapez. Wie treffend die Worte sind, wie sehr Effi an freier Beweglichkeit und an einem oft sich in Übermut zeigenden Drang nach oben, weit weg von der Sphäre der Alltagsmenschen,
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