Heft 
(1976) 23
Seite
547
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lieh an Fontane angeknüpft hat, weiterlebt.® Untrennbar verbunden mit der Ansicht von der partiellen Unbewußtheit als notwendigem Ingrediens des zu überzeugenden Resultaten führenden künstlerischen Schaffens­prozesses ist das Bekenntnis Fontanes zu relativ lebensähnlichen, mensch­lich und ästhetisch überzeugenden Figuren und zur behutsamen Anti­zipation des Kommenden. Es ist überhaupt erstaunlich, welche eminente Rolle,, die Kraft der Menschenschöpfung und Gestaltung 7 , also die Frage der ästhetischen Verkörperung des MenscHfenbildes, bei Fontane theore­tisch und praktisch spielt. Fontane legt jedenfalls die Auffassung nahe, daß erst voll ausgeführte widersprüchlich-ganzheitliche, also typische Fi­guren literarische Kunst ausmachen.

Kennzeichnend für Fontanes kunstkritische Praxis sind folgende Worte aus der Besprechung von Brahms Kleist-Buch:

Wie man von der Mathematik gesagt hat, sie könne sich bis zum Poetisch-Phantastischen erheben, so gibt es auch eine Kritik, ja, dies ist die eigentliche, die sich bis zur Passion erhebt. Wen eine Schönheit entzückt und je kritischer man ist, je mehr Möglichkeit echten Ent­zückens ist gegeben, der findet auch die Wärme des Ausdrucks. Grund­falsch ist der Glaube, daß Kritiker sich nicht enthusiasmieren könnten. Sie können es seltener, aber dafür auch besser als andere . 8 Die Dialektik von Kritik und Entzücken ist bei Fähigkeit zum gestuften schmiegsamen Ausdruck eine wesentliche Grundlage von Fontanes Kriti­ken, für ihren gültigen essayistischen Charakter. Seinen Essays, Studien und Aufzeichnungen ist jedenfalls zu entnehmen, daß eine völlig durch­rationalisierte Auffassung vom künstlerischen Schaffensprozeß, allzu starke Funktionalisierung der Figuren oder auch Mangel an formulier­barer Begeisterungsfähigkeit in der Kritik der Kunst nicht zuträglich sind, ihre ästhetische Unmittelbarkeit und Überzeugungskraft beeinträchtigen. Fontanes kunsttheoretische und literaturkritische Auffassungen haben den Charakter objektiv-subjektiver Urteile, die mit der ästhetisch-litera­rischen Praxis in wachsender Wechselbeziehung stehen. Es sind in ihrer untrennbaren Einheit von Subjektivem und Objektivem, von Konkretem und Allgemeinem, in ihrer sinnlich-symbolischen Abstraktheit unverkenn­bar essayistische Urteile. Sie weisen den Essayismus als eine Haltung zwischen Kunst und Wissenschaft aus, der angesichts ihrer wagnishaften subjektiven Bekenntnishaftigkeit und ihres in jedem Betracht aufs Ganze gehenden Charakters in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in­nerhalb der Literatur- und Kunstkritik wie auch sonst bei der geistig­emotionellen Profilierung der sozialistischen Persönlichkeit große schöp­ferische Bedeutung zukommen sollte, wie Annemarie Auer im eingangs charakterisiertenEssay über den Essay nachgewiesen hat.

Dr. sc. Joachim Biener, Leipzig

Literaturangaben

l Unter den frühen Arbeiten sollte dem erstmals wieder abgedruckten Aufsatz über Victor Hugo aus dem Jahre 1850 wegen seiner Kritik an allen forcierten und entfremdeten literarischen Tendenzen ein besonderer Platz eingeräumt werden Eine gewisse objektive Nähe zur konservativ-organischen Ästhetik, z B Friedrich Theodor Vischers, ist dabei freilich unverkennbar.