Heft 
(1976) 23
Seite
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2 Hinsichtlich der Aktualität von Fontanes Realismus ist der Verf. meses Bei­trages zum Beispiel der Meinung: Wäre der Romancier Fontane und auch der reife Theoretiker des Durchschnittlichen als des Typischen vor und um 1945 weltliterarisch bekannter gewesen, Cesare Zavattini als Theoretiker des Neorealismus hätte bei der Konzipierung seiner Filmästhetik der unbedingten Wahrhaftigkeit, der realistischen AUtagsschicksale, des fabelarmen Films und der Verklärung des Plebejers literarisch nicht nur an Anton Tschechow an­geknüpft, sondern auch den Dichter vonIrrungen, Wirrungen undStine.

3 Vergleiche dazu auch die Kritik an Julius Stiefels Studie überDie deutsche Lyrik des 18. Jahrhunderts 2, 396 ff.

4 Aus Fontanes Besprechung von Eduard EngelsGeschichte der französischen Literatur erfährt der Leser auch, auf S. 447 des 1. Teilbandes, Fontanes zu­stimmendes Urteil über den von ihm sonst nicht erwähnten Flaubert.

5 Am 14. 5. 1884 an Emilie Fontane.

6 Joachim Seyppel ln einem Interview in denWeimarer Beiträgen, 3/1968 S. 598.

7 XXI, 1, S. 300.

8 XXI, 2, S. 425.

Ester, Hans: Der selbstverständliche Geistliche. Untersuchungen zu Ge­staltung und Funktion des Geistlichen im Erzählwerk Theodor Fontanes. Leiden: Universitaire Pers 1975. 150 S. (Germanistisch-anglistische Reihe der Universität Leiden. Bd. 14.)

Wenn in einer Untersuchung hauptsächlich von den Geistlichen in Fon­tanes Werken die Rede ist, dann muß dabei, der Logik der Sache nach, auch das Verhältnis Fontanes zum Christentum überhaupt zur Sprache kommen. Denn schließlich sind die Pfarrer Amtsträger der christlichen Kirche und Verkünder ihrer Lehre. Man erwartet daher, daß, bevor die Funktion der Pfarrer in den epischen Werken Fontanes behandelt wird, man erfährt, wie sich Fontane zu der berühmten Gretchen-Frage gestellt, wie er es mit der Religion gehalten hat. Denn das dürfte von entschei­dender Auswirkung auf die Rolle der Geistlichen bei Fontane sein.

Leider fehlt in der hier zu besprechenden Leidener Dissertation von Hans Ester eine solche prinzipielle Klärung des Verhältnisses Fontanes zur christlichen Religion, so daß Esters Detailuntersuchungen in Gefahr sind, falsch verstanden zu werden. Wir sehen uns daher veranlaßt, an einige Tatsachen zu erinnern,, die allerdings in der Fontane-Literatur längst festgestellt worden sind, von denen jedoch Esters Ausführungen hätten ausgehen sollen.

Fontane, der ein relativ geringes Interesse an theoretischen Problemen hatte, hat sich mit dem theoretischen Gehalt des Christentums nicht prin­zipiell auseinandergesetzt, sondern es mehr von seiner praktischen Er­scheinungsform her rezipiert. Auch ist ihm im Gegensatz zu deutschen Dichtern des 18. Jahrhunderts wie Klopstock oder Matthias Claudius das Christentum als Erlösungsreligion nicht mehr zum Erlebnis geworden. Der mythische Gehalt des Christentums (Opfertod Christi; der Glaube daran als Voraussetzung der Erlösung) blieb ihm fremd. Er hat ihn weder anerkannt noch bestritten, sondern ihn einfach beiseite gelassen. Daher finden wir in Fontanes Werken kaum mehr als säkularisierte Restbe-

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